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zur Belehrung und Unterhaltung. I?ter Stück/ den 29. Februar 1828» Merkwürdige Wirkung des Schmerzes. ^n Versailles lebt eine Frau, welche sich zu einer rührend sonderbaren Lebensweise verurtheilt hat. Sie ist für Niemand sicht bar, und erlaubt den Eintritt in ihre einsame Wohnung nur zwei Weibern, wovon die eine ihr Milch, die andre Wasser und die übrigen Lebensbedürfnisse bringt; aber wäh rend sie den Anblick der Lebenden flieht, scheint sie sich an alle Todten zu binden. Kein Lei- chenzug, dem sie nicht folgte. Ist Jemand in der Nachbarschaft dem Tode nahe, so drängt sie sich hinzu, ihm die letzten Dienste zu erweisen, mit einem Eifer, als ob sie der innern Stimme eines geheimen Berufs folg te. Man erklärt sich dieses sonderbare Be tragen aus folgenden Umständen. Die Frau hatte eine zärtlich geliebte Tochter, welcher sie eine so sorgfältige Erziehung gegeben hatte, als es ihre Lage erlaubte. Im acht zehnten Jahre hatte das Mädchen so viele Fortschritte im Zeichnen gemacht, daß sie zur MahlereL überging. Zum Unglück hatte sie eine Freundinn, ihr gleich an Kunstfertigkeit, die von einer heftigen Leidenschaft gegen einen jungen Kriegsmann glühte, dem die Aeltern sie verweigerten. Das liebende Mädchen, in ihren Worten noch mehr als in ihren Em pfindungen überspannt, vertraute der Freun dinn den Entschluß, ihr Leben zu enden, und betheuerte, es schmerze sie nichts als die Trennung ihres Freundschaftsbandes. Diese Mitteilung erschütterte die junge Künstlerin» so tief, und störte so sehr ihre Besonnenheit, daß sie sich entschloß, ihre Freundinn nicht zu überleben. Beide brauchten zur Ausfüh rung des unglücklichen Entschlusses Mahler farben; aber die schwärmerische Freundinn, sey es, daß sie schwächlicher war, als die verzweiflungsvolle Liebende, oder beharrli cher in ihrem Vorsatze, sie allein ward das Opfer; ja, es fand die andre, wie man sagt, Trost in einer neuen Verbindung. Leb hafter war der Schmerz der unglücklichen Mutter. Der Verlust der geliebten Tochter hat ihr Gemüth so zerrüttet, daß sie noch immer nicht glauben kann, ihr Kind ser- fern von ihr. Die verwirrte Einbildungs kraft zeigt ihr die theure Verlorene; sie glaubr ihre Tochter um das Haus irren, glaubt in den Wolken sie wandeln zu sehn, und um ihr näher zu seyn, bewohnt sie die