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Ein Spätherbsttag am Würmsee. Bon tzmik Auer (t). Der schöne bayerische Voralpensee mit seinem prosaischen Namen hat seit dem vorigen Jahrhundert, seit Westenrieder, der berühmte bayerische Geschichtsschreiber, zum erstenmal dar über schrieb, bis zum heutigen Tage vielen Literaten Stoff zu größeren und kleineren Schilderungen gegeben. Manche derselben wären freilich besser ungeschrieben ge blieben, ihre Verfasser scheinen die Feder in Seewasser statt in Tinte getaucht zu haben. Die Geschichte der Hoffeste, die im vorigen Jahrhundert auf diesem See abgehalten wurden, und die Beschreibung des „Buc- eentaur", der bei solchen Gelegenheiten darauf schwamm, ziehen sich wie abgedroschenes Stroh durch die meisten dieser älteren und neueren Schilderungen, Die Arbeiten Nos's und Steub's sind die einzigen erfrischenden Oasen in dieser Wüste des ewigen Einerlei's. Ersterer erquickt durch tiefgehende Naturempfiudung und farbige Lebensbilder, letzterer durch seinen Humor und Sarkasmus. Aber nicht nur Naturschilderer und Feuilletonisten haben sich über den schönen See hergemacht: auch Romanschreibern, wie Hackländer, Becker u. s. w. mußten in neuester Zeit seine User und seine Fläche wiederholt als Schauplatz dienen. Nur die Poeten von Ruf haben sich bisher spröde vom Würmsee ferngehalten; ob ihnen die Namen, die den See bezeichnen, zu Prosaisch sind oder ob der Genuß der Renken und des Tutzinger Schloßbiers keine poetische Stimmung bei den Herren aufkommen läßt, weiß ich nicht zu bestimmen. Doch sehe ich eben, daß ich statt der vorgehabten Entschul digung für nachstehende Seiten und des Beweises ihrer Berech tigung, den ich liefern wollte, begonnen habe, mich in eine kriti- sirende Geschichte der prosaischen und poetischen Literatur des Würmsees zu verwickeln. Also, lieber Leser, begleite mich; ich verspreche dir, keinen modernden Buccentaur auf dich zuschwim men, kein gepudertes Fräulein Knixe vor dir machen und von keinem Troubadour die Mandoline erklingen zu lassen, sondern ich will dir die vereinsamte Landschaft im Glanze eines sonnigen Spätherbsttages zeigen und dabei die Tagesgeschichte der See- nfer einflechten. Wenn im Herbste die Scharen der städtischen Sommervögel aus den Bergen in ihre Winterquartiere zurückgekehrt sind und die Natur in ursprünglicher Frische und Pracht dasteht und jene zauberhafte Ruhe und Stille wieder über sie gekommen ist, die ihr lange geraubt war, dann treibt es mich in den letzten schö nen Oktobertagen noch einmal hinaus, mich auf einen oder zwei Tage allein und ungestört an der Pracht der herbstlichen Farben und Lichter zu ergötzen und Abschied zu nehmen von Bergen und Seen für einen langen, langen Winter. In den warmen Flaus gehüllt, schreiten wir von der Stadt auf den Bahnhof hinaus. Der Starnberger Billetschalter, der an schönen Sommermorgen von tausenden von Ausflüglern so belagert ist, daß cs starker Arme und großer Unverdrossenhcit bedarf, um in den Besitz einer Fahrkarte zu gelangen, ist hcnte verödet. Der Expeditor, der in unserer Ausrüstung weder einen Landmann noch einen Commis Voyageur erblicken kann, sieht uns bei der Verabreichung des verlangten Retonr-Villets ver wundert au und scheint nicht begreifen zu können, daß es einen Menschen giebt, der bei einer Temperatur von nur 4- 4° 0. einen Ausflug an den Starnberger See macht. Im Wartesaal zweiter Klasse werden wir heute nicht von bezwickerten Herren und Damen fixirt, kein Chignon, keine seidne Robe, kein Glacehandschuh, keine Lorgnette und kein Berliner Gemscnmörder in Stritzow'scher Ausrüstung wird erblickt, der weite kalte Saal wicdcrhallt von unseren Schritten. Und siehe auch der billetkonpirendc und rcvidirende Stationsdiener scheint keine Ahnung zu haben, daß es um solche Jahreszeit und um diese Morgenstunde einen Passagier zweiter Klasse nach Starn berg geben könne, denn er läßt unsere Thüre ungeöffnet und wir müssen uns bequemen, durch den Wartcsaal dritter Klasse Mi Zug zu gelangen, wenn wir nicht von der Fahrt aus geschlossen bleiben wollen. Hier bestehen die Passagiere ans einigen heimkehrendcu Rekrntcn, mehreren Viktualienhändlern, die mit so großen Gcflügelbchältern versehen sind, daß ihr Aus allen Welttheikn. VI. Iahrg. I Austritt erst durch Oeffnung des zweiten Flügels der Thüre be werkstelligt werden kann, und einem mit Schreibmaterialien hau- sirenden Juden, der sein erstes Geschäft gleich mit mir entri- T'en will und seine Waare mir mit beredten Worten, doch mit um so geringerm Erfolge anpreist. Endlich setzt sich der Zug, dessen Erträgniß heute wohl kaum die Kosten der verbrauchten Steinkohlen deckt, in Bewegung. Alle die Stationen, an denen der Sommertourist geräuschvolles Leben und regen Verkehr zu finden gewöhnt ist, sind verödet und machen einen trüben Eindruck; selbst in Planegg mit seinem während des Sommers von Tausenden besuchten Wallfahrts ort Maria Eich ist keine Seele zu erblicken. Verödet steht das reizende Kirchlein, dessen Anblick vom Wagenfenster aus mich immer erfreut, umrahmt von den schon stark herbstlich gefärbten und theilweise entlaubten Buchen- und Eichenwäldern, auf seinem weiten Wiesenplan und gibt in seiner heutigen Vereinsamung den Beweis, daß auch das frömmste Herz äußerer Wärme be darf, mn aufzuthauen und hierher zu pilgern. Das tief weh- müthige Wort: „Wer sich der Einsamkeit ergibt, Ach der ist bald allein!" habe ich an jenem Tage wieder in seinem ganzen Umfange em pfunden, es wird seine schmerzliche Giltigkeit wohl ewig be halten. Wer es sucht, findet immer noch ein stilles Plätzchen in der Welt und die Möglichkeit für beschauliche, uns auf uns selbst zurückführende und uns selbst lassende Genüsse, die in der so hoch gesteigerten Regsamkeit der Welt und in der mit unter krankhaften Heftigkeit ihres Treibens fast ganz verloren gehen. Gar mancher sucht während der schönen Jahreszeit die Einsamkeit der Berge und Wälder auf, weil er auf eine Zeit lang „keine Menschengesichter mehr sehen will". Glückt einem solchen von zeitweisem Menschenhaß Befallenen sein Vorhaben nicht, so kehrt er mürrischer und unwilliger als zuvor in die Stadt zurück. Er rücke einmal, wenn die Natur begonnen hat Wintertoilette zu machen, hinaus in Wald und Feld, dann wird er bald einsehen, wie er sich getäuscht hat, wenn er seinen Ge selligkeitstrieb für abgestorben hielt; um ihn zu heilen genügt kurze Zeit. Unter solchen Betrachtungen fahren wir in den Starnberger Bahnhof ein. Die wunderbare Fläche des Sees und das unvergleichliche Alpeupanorama lassen uns den projektirten Morgenimbiß fast ganz vergessen und doch liegt die Gelegenheit dazu so nahe durch den erst in jüngster Zeit entstandenen Gast hof „Am See", der seine stolze Fronte zwar in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs, aber nichts weniger als am See erhebt, denn er liegt' immerhin noch hundert Schritte landeinwärts. Die Starnberger können es, wie mir scheint, nicht dazu bringen, ein Gasthaus direkt am See zu erbauen und doch wäre ein solches der größte Reiz dieses Münchener Sanssouci. Abcr die Wirthe um den ganzen See scheinen nur zu gut zu wissen, daß Aussicht und Naturgenuß für neun Zehntheile der Münchener Ausflügler Nebensache sind; denn von den Wirthshänsern sämt licher Ufer liegt nur Leoni unmittelbar am See — aber der Erbauer dieser reizenden Station war kein altbayerischer Wirth sondern ein italiänischer Sänger. Ammerland's Taverne wird zwar auch von den Wellen des Sees bespült, aber dort bestrebt sich, wie es scheint, bäuerische Spekulation durch Neubauten, Ge- stränche und Bäume allzugroße Naturschwärmerei zu beschränken und dadurch den Sinn der Besucher mehr auf die Tafelfreuden zu lenken, die dort allerdings im wohlthuenden Gegensatz zu allen übrigen Uferorten befriedigend sind. Aber ein genießbarer Bissen und ein frischer Trunk in Verbindung mit freiem Blick auf Berge und See sind nach der alten leidigen Melodie, daß auf der Welt nichts vollkommen ist, am ganzen See nicht zu finden. Trösten wir uns; was einem bajuvarischen Wirth noch nicht eingefallen ist, darauf kommt vielleicht über kurz oder lang ein nordischer oder ausländischer Hotelier — dessen Preise für die Nealisirung unserer Wünsche aber anch wieder keine volle Befriedigung aufkommen lassen werden. Trotz der Kälte bleibt uns nichts übrig, als die unvermeidliche 2l