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226 komm! das Aller später und die Kindheit vergebt schneller, als an- dcrswo. Ein Mädchen vvn sechs Zähren ist oft schon eine kleine Ko kette, und ein alter Dilettant ist noch ein junger Enthusiast. Sonder bares Land, dessen Eivilisation jenen Laumen gleicht, deren Wipscl noch grün ist, während Stamm und Zweige schon abgestorben sind. Unsere Alexandrine, so hieß das kleine Mädchen, war ein recht bübsches Püppchen. Sie sprach von Moden, vom Theater mit überraschender Gewandtheit, und ihre Mutter fand diese frühzeitige Reife ganz schar mant! Es ist merkmürdig, den Hof des Königlichen Post-Amtes zu sehe» in dem Augenblicke, wo zur Abreise aufgebrochen wird. Die Peitsche des Postillons erschallt, die Schellen um den Nacke» der Pferde erklingen. Abschiedsgrüße, Empfehlungen und Händedrücke durchkreuzen sich auf allen Seiten, und nun durchläuft die Diligence alle Ncbcngäßchen und Ecken von Paris. Sie schmiegt und krümmt sich überall hin und durchschlängclt lausend Kreuzwege, gleich der Schlange im Korallen-Labyrinthe, die ans freien Weg zu kommen be- wüht ist. Wir befinden uns bald zn La Lillette, der Kanal ist überall mit Barken besetzt; ein ungeheurer Bolkshanfe verbreitet sich über alle Banmgänge; es ist heule Sonnlag, der feierliche Tag, der in England so düster, aber so. sröhlich in Frankreichs ist. Ich erkundigte mich, warum heute die Straßen von Paris so öde, dagegen die Vorstädte alle von der Menge so angefüllt scheu; der Wein, sagte man mir hier auf, von dem der Litre für sechs oder acht Sous verkauft wird, ladet an dem feierlichen Tage die Handwerker von Paris zur gemeinschaftli chen Beliistigung in die Schenke» ei». Zch bewunderte die Fruchtbar keit der Landschaft und theilte meine Gefühle hierüber meinen Reise gefährten mit, die mich mit eiuem gewissen bescheidenen Wohlgefallen anhörlen. Auch begannen sie bald von ihrer Seite vertrauliche und scherzhafte Gespräche anzuknüpfen, bei denen mir die Zeit schnell ver strich. Wenn der Engländer auf'seine solideren Tugenden und nützli cheren Eigenschaften vielleicht stolz seyn darf, so muß man die Höflich keit, die Gefälligkeit im Umgänge, diese kleine Münze, deren da« Leben so sehr bedarf, und die immer im Course bleibt, selbst wenn sie falsch ist, diese Münze, sage ich, muß man nirgends anders, als bei den Franzosen suchen. Wir waren schon fern von Paris; mehr als Eine Stadt war un seren Blicken vorübergegangen, indeß werde ich hier weder von Saint- Quenlin noch von dein großen unterirdischen Kanal, den Napoleon daselbst graben ließ, noch von Eambrai und der ziemlich mittelmäßigen Statue sprechen, die der Bildhauer David dem Andenken Fenelon's errichtet, dem erhabensten Geiste und der rechtschaffensten Seele, die Frankreich je hervorgebracht. Hier ist Douai, hier ist es, wo ich meine bisherigen Reisegefährten gegen einen jener Gascogner Schwätzer ver tausche, die mit allen Unannehmlichkeiten der modernen Eivilisation noch das Unglück der Zgnoranz verbinden. Die Marseillaise und die Parisienne eiend gesungen, durch Fragen unterbrochen, auf die keine Antwort erwartet wurde, absurde Erclamationen, abgedroschene Mähr- chc», längst aus der Mode gekommene Wortspiele, alles dies betäubte meine Ohren so sehr, daß ich mich genölhigt sah, meinem lästigen Er zähler den Nücke» zuzuwendcn und den Kops zum Kutschenschläge- hin- auSzustccken. Allein der Gascogner ließ sich dadurch nicht enimuthi- aen; es bedurfte für ihn eines SchlachtopserS, und so öffnete er auch seinerseits den Kutschenschlag und begann ein neues Gespräch mit dem Postillon anzuknüpfen, der aber glücklicherweise seine Pseise forlrauchte, ohne Jenem ein Wort zu antworten. Endlich kommen wir in Brüssel au, man spreche von dieser Stadt, aus welche Weise man wolle, immer kann man sicher sehn, Recht zu haben; es ist eine in der Milte liegende Stadt, die Stadt aller Farben, ein Reflex von Frankreich und zugleich ein Schalten von Deutschland. Du findest hier Italien mit seine» Künsten, Holland mit seinem Privat leben und selbst England in seinen zahlreichen Auswanderern, den Baiikcrottirern der drei vereinigten Reiche. Es darf nicht Wunder neh men, daß man zu Brüssel die ichönsten Equipagen von der Welt aiifer- tigt, in jener Stadt, die weniger eine Hauplstädt, als ein Rendezvous aller Nationen ist. Der Charakter von Brüssel ist der, gar keinen Cha rakter zu haben. Man lobe oder tadle, man beschimpfe oder erhebe die Bevölkerung und die Sitten dieser Stadt bis iu den Himmel, man bezeichne die Brüsseler als Oekonomem Künstler, Verschwender, Leicht sinnige, bescheidene oder luxuriöse Leute; immer hat man Recht. Es ist leicht, das Charakterische der vorzüglichsten Städte Europa's hcrvorzu- beden. London ist die Stadt der Kaufleute; Amsterdam ist eine See stadt; Venedig war ehemals der Ueppigkcit ergeben; Paris liebt das Vergnügen des Augenblicks; Wien ist die Burgerstadl; Rom ist die Hauptstadt der Cercmonien; Brüssel endlich lebt nur von der Nachah mung; es ist die Stadt des Nachdrucks pao oxcollenco. Wollte man den Haupt-Cbarakterzug von Brüssel angcben, so wür den wir sagen, daß die Stadt von Französischer Seile und Französischem Einfluß speziell beherrscht wird; allein außerdem ist hier noch gar vieles Andere anzutreffe». Die Engländer befinden sich hier im Ucbcrfluffe, dec rohe KausmannSgcist bat hier seine Wohnung anfgeschlageu; das Alterthum und da« Mittclalicr haben hier Spuren zurückgelaffln; die Spanische und die Französische Herrschaft sind noch sichtbar geblieben; die nationale Unabhängigkeil Hal von Allcrs der einige Wurzel» geschla gen; die häusliche» Tugenden »»v die Eigenschaften eines guten Wirth- schaflers sind hier nicht selten zu finde»; die Gauner von Europa geben sich hier Rcndez-Vons. WaS Brüssel noch fehlte, das waren rauchende Ruine», moderne Trümmerhaufeii und eine Revolution im kleinen Maaßstabe; alles dies ist in Brüssel heutzutage vorhanden. Kommst Du im Monat September nach der Stadt, so findest Du sio öde und verlassen. Aber im April wird es lebhaft, volkreich, gcränsch- und ge wühlvoll in Brüssel, wie in der Nähe des Pall-Mall und des Palais Royal. Die-Physiognomie Brüssels ist nicht ohne Reize; man glaubt sich auf dem Universal-Kreuzwege des reisenden Europa zu befinden; man überläßt sich hier einer gewisse» Sitte»- u»d Gedanke»-Freiheit, man fühlt sich frei von den Fessel» des gesetzgeberischen Herkommens, in einem Lande, wo Alles Herkommen ist. Du beziehst Lich nach dem großen Platze und bleibst vor dem Stadthause stehen, dort erblickst Du Gebäude, deren Stil allen Epochen nird alle» Völkern angehöri. Hier geht der Engländer mit ernster Miene vor Dir vorüber; der dick bäuchige Deutsche, der pausbäckige Flamändcr und der schmächtige Fran zose unterhalten sich hier mit den Kaufleuten unter den kleinen spitzzu laufenden Zelte»; unterdessen betrachtest Du die angränzendc» Paläste. Die Eleganz und der Reichthum des Mittelalters haben dort diesen Hauptthurm ä janr brodirt, mit seine» kleine» Glöckchen, die in regel mäßiger Entfernung von einander wie die Tannäpfcl sich emporhcben und i» üppiger Fülle gleichsam eines aus dem anderen hervorwachsen. Durch diese' bewundernswürdigen regelmäßige» Zwischenräume dringt das Tageslicht hindurch, während das Auge auf drei Reiben von Arka den und Fenster» ruht, die, zum Theil bogenförmig, zum Theil viereckig, die großen Säle des Stadthauses beleuchten, wo so viele blutige Ban- quets gegeben und so viele Conspirattonen angezettelt worden. Zn der Nähe dieses Monument«, das a» die Zeiten der Herzöge von Burgund erinnert, befindet sich ein kleine« Hau«, das uns Madrid in's Gedächt- niß ruft: es hat seinen Balkon und seine Gitterfenster. ES ist wahr scheinlich, daß man dasselbe zur Zeil des Herzogs von Alba erbaut hat. Die äußerste Etage läuft in eine fantastische Krümmung au«, die unser Geschmack zwar nicht gmheißen kau», die aber an die kapriziösen Schnör kel erinnert, mit denen die Arabische Baukunst so verschwenderisch war. Noch weiter hi» versetzen Dich die cannelirten Säulen nach Zlalien, mitten unter die phantastischen Schöpfungen Beromino's, der seine Archi tekturen gerade so wie der Pasteten-Bäcker seine Pasteten zusammen- knetete. (Schluß folgt.) Bibliographie. Ilistorv sncl present conäition ok the I-arlisr)- 8tsles. (Ge schichte und gegenwärtiger Zustand der Barbarcsken-Staaten.) Von Russell. (Bildet auch einen Band der Lckinhurzh (Unet l^l- hrar)- j 5 Sh. Pke captive. (Der Gefangene.) Roman, z Bde. ZI^ Sb. R)- like. (Erzählungen au« meinem Leben.) Vom Vers, der 8taries of Waterloo, z Bde. Zl^ Sh. I»ou"I> leaves srnm a jnurn.al. (Blätter au« einem Tagebuchc, ge führt in Spanien und Portugal im Jahre I8Z2.) Vom Oberst- Lieutenant Babcock. l2 Sh. Hie xips)c. (Der Zigeuner.) Roman vom Berf. des „Richelieu", z Bde. Zli Sb. Hie cvile. (Die Frau.) Von Mistreß Norton, r Bde. Sh Frankreich. Lustiger glorreich beendigter Prozeß, oder das Journal im Jahre 1745. (Schluß.) Madame Saint-Aymar, halb erdrückt von Zärtlichkeiten, empfahl sich der Cousine, die hundert Franken in der rechten, den Rexcure fie ssrance in der linken Tasche. Kaum war sie an« dem Hause, so dachte sie fast nicht mehr an den Mercure, aber desto mehr an ihre Rache. So schnell es sich nur thun ließ, ward ein Huissier angenommen und der Frau Präsidentin über den Hal« geschickt. Der Huissier, ein ge schickter Mann in seinem Fache, wählte die Zeit, wo die Frau Präsi dentin bei Tische war, die gerichtliche Vorladung abzugeben; dann zog er in der größten Schnelligkeit wieder nach Paris ab. Eine ge richtliche Vorladung an die Fran eines Präsidenten! und welch eine Vorladung ! — in den abscheulichsten Ausdrücken abzefaßl. Die Frau Prä sidentin wollte bei Lesung derselben fast aus der Haut fahren; sie schrie, sie lamcntirte, sie ries den Himmel zu ihrem Rächer an. Der Präsi dent flehte einmal über das andere: „Beruhigen Sie sich, meine Liebe!" es half nichts, Alles war umsonst. Die Saint-Aymar lriumphirle in ihrem Herzen. Die ganze Stadt, die den Streit mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgt halte, sprach von nichts Anderem, ja, man vergaß sogar den ülerc.ura ,1« biance darüber und den schönen Wald in seinem Früh- lingsschmucke. Den zunächst bctheiligten Personen mußte Alles daran liege», dies widerwärtige Verbälmiß so bald al« möglich wieder in« Gleiche zu bringen. Der Präsident, der Saint-Avmar in seiner Eigen schaft als Dichter herzlich lieb hatte, ließ ihn zu einer Unterredung un ter der alte» Ulme bitten; eben dahin wurden auch die beiden andern Poeten geladen, um als Richter und SchiedSmänncr in dieser großen Sache zu sungiren. Und so sah sich denn der alte Baum, der vertraute Hörer so vieler schönen Verse, in eine Art von Tribunal verwandelt. Unsere vier Poeten, die hier gewöhnlich so glücklich zusammcntrafe», so verloren in ihren Tränmen und Reimen, kamen mm lang samen Schrittes, feierlich, mit finsterer Richtcrmiene heran. Der Präsident, der sich zuerst eingesuuden hatte, begrüßte seine Kollegen mit schweigender Verneigung und trug ihnen da»» pr» traurigen Zwist zwischen seiner Frau und Madame Saint-Avmar vor; er theilte ihnen die gerichtliche Vorladung mit und sprach über de» Prozeß, der sich daran knüpse. Hierauf »ahn, der Landrath das Wort und ver sicherte, wie für ihn diese ganze Sacht im höchsten Grade betrübend scv, daß er weder dem Präsidenten noch der Frau Präsidenten zu nahe treten wolle, bei alle dem aber,die Bezahlung der weißen und grünen Geschirre doch nicht ganz allein übernehmen könne. Alles das, was der Landrath äußerte, erhielt die vollste Beistimmung der Richter. Der Abb«', sonst eben kein juristischer Kopf, fand das Mittel, den gordischen Knoten dieser verdrießlichen Kollision zu lösen. „Mein Vor-