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ihres Opfers, seinen gänzlichen Mangel an Feierlichkeit, an Ehrfurcht vor hohlem Pathos und wichtigem Wesen die Herren Philister antriebe, nun wenigstens seine „Charakterlosigkeit" nachzuweisen. Es hat mich nicht gewundert zu hören, daß auch Bismarck den Vorzug hatte, von Gervinus zeitlebens gehaßt und befeindet zu werden. Gegen Hamlet führt er seine Sache, wie ich leider berichten mußte, ohne Fleiß, ohne ge nügende Kenntniß der Akten, mit Anwendung kleiner Kniffe, gleich einem schlechten Advokaten; Karl Werder aber trat als Richter in ihr auf, und er sprach Recht. Wie nun steht es in der Heimath des Dichters? Das Buch von Dowden ist vor etwa zwanzig Jahren aus Vorlesungen, die der Verfasser in Dublin hielt, hervorge gangen, fünf Jahre später in guter Uebersetzung auch bei uns verbreitet worden.*) Es ist ein weltmännisches Buch, das Ge lehrsamkeit, eindringliche Lebenserfahrung und Geschmack ver einigt, tief und klar geschrieben, voller Begeisterung und Ver- ständniß für feinen Heros, dabei kurz. Dowden erblickt in Shakespere die nothwendige Ergänzung des Christenthums. Dieses beschenkte die Welt mit dem Vorbilde der Selbstauf opferung und Duldung, es predigte Nächstenliebe auf Kosten der eignen Persönlichkeit, es führte für lange Jahrhunderte zur Abkehr von der Welt und Verachtung alles Fleisches. Shake spere ruft auf zur Thatkraft, sucht das Gesicht des Menschen der Erde zuzukehren, giebt ihm das Bewußtsein, daß bei ge nügender Selbstzucht und Herrschaft über die eignen Leiden schaften Großes und Schönes zu erreichen, Segen für alle auf dieser köstlichen Erde zu verbreiten sei. Der Gott, den er glaubt, ist geheimnißvoll, doch von höchster Gerechtigkeit. Weniger im „Hamlet", wo sein Walten die kurzsichtigen Pläne des *) „Shakespere, sein Entwickelungsgang in seinen Werken," von Edward Dowden, übersetzt von Wilhelm Wagner, Heilbronn, Verlag von Gebr. Henninger 1879.