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102 Was diese Briefe enthielten, hatte Niemand Gelegenheit zn ersehen, denn Madge, so nnglcich den jungen Mädchen im Allgemeinen im Ver fahren mit ihren Liebesbriefen — denn Liebeö- bricsc waren cö natürlich, wie die Schwestern bcbanptctcn —, verbrannte dieselben jcdcömal sofort nach dem Dnrchlcsen nnd zerstampfte sogar die znrückblcibendc Asche im Kannnc. Es war augenscheinlich, das! sie ihr sowohl Augst, als Freude vernrfachteu. Fräulein Priscilla, welche von den beiden Schwestern die argwöhnischste nnd scharfsichtigste war, machte diese Bemerkung. Außerdem machte sic noch eine Entdeckung, welche gleich einem schwachen Strahl in das Dnnkcl, das sic nicht zu ergründcn vermochtc, hincinlcuchtctc; cö war dies dcr Umstand, daß sic fand, Madgc habc sich angcwöhnt, bcdcntcud mchr im Haujc zn spionircn, als nöthig sei. Sie hatte sic gar dabei überrascht, als sie in einem feuchten Loche, das den Namen Küche trug, umhcrlngtc und zwar während dcr Nacht, als sie von Rechts wegen in ihren, Vette und im tiefen Schlafe hätte sein sollen. Auch hatte sic dic Gcwohnhcit, ihrc Fingcr in alle Spalten und Löcher dcr Maner zn stecken und ihrc Nase in verdeckte Krüge und Vasen, was Fräulein Priscilla voller Aergcr im Flüstertöne an Fräulein Agathe, ihre Schwester, berichtete. Darauf drohten dic Bcidcn dem Mädchen, daß, wenn sie sic noch einmal in dcr Wcisc übcrraschcn sollten, sic soglcich fort müßte. Doch dabei blicb cS nnd Madge spivuirtc mir noch mehr als zuvor und schrieb längere Briefe an Herrn Hohn Colletc in London. Ein unfreundlich stürmischer Abend hatte sich hcrabgcscnkt, dcr Wind rauschte in den Bäumen und pfiff um'S Haus, als ob eine Legion böser Geister einander zuriefen; es war aus diesem Sausen und Toben alles Mögliche bcrauSzuhörcn. Bald waren es Seufzer und Stöhnen, bald wilde Schreie oder klagende Lantc. Jctzt war es, als ob eine beschwingte Schaar vvrübcrflögc nnd gleich daraus, als ob ciue Armee über die Haide setze. Die Natur hatte ihrc Kräfte cutfesselt nnd die Menschheit litt mit ihr. „Welch' eine Nacht!" sagtcFränlcinPriscilla, indem sie zitternd ihrc dürftige Bekleidung fester nm sich zog und unruhig das einzige Licht, welches den leeren Tisch ans Tannenholz und wenig mchr bclenchtctc, hin- nnd hcrschob. „Sic 'unterhalten solch' dürftiges Feuer," entgegnete Madge Bernard ruhig. Sie war während dcr lctztcn paar Tage sehr ruhig und liebenswürdig geworden. „Solche Handvoll feuchten TorfS! Kann man da etwas Anderes erwarten, als zn frieren?" „Frieren, in der That! Wenn meine Schwester und ich, welche soviel älter und schwächer sind, cs warn, genug finden, so sollte ein junges Ding, wie Dn, wahrlich nichts zn klagen haben," bemerkte Fräulein Agathe erbost. „Es sollte auch keine Klage, sondern eine Bemerkung meinerseits sein," entgegnete Madge, ihr hübsches, brannlvckigcö Köpfchen hin- und hcrwiegcud. „Weich' furchtbare Nacht!" fuhr sie fort, Fräulciu Priscillas Wvrtc wieder holend, als ein orkanartiger Windstoß das hölzerne Häuschen gleich einer Wiege bewegte; „gerade eine Nacht, wie sie sich für den „Galloping Dick" eignen würde!" „Schweig' stille, Madge!" sagte Fränleiu Priscilla strcngc. „Ich mag derartiges nicht hören." „Und warum iu aller Welt mögen Sic denn nicht sprechen hören, Fräulein Priscilla? Sie wollen doch wohl damit nicht sagen, daß Sie wirklich an den „Galloping Dick" glauben?" fragte das Mädchen. „Es kann Dir ja gleich sein, was ich glaube!" fache Fräulein Priscilla mit Schärfe, und Fränlcin Agathe stimmte im Eher mit ein. Madge sah übermüthig ans, doch sprach sic ruhig uüd crnst, daß cö ihr nicht gleich sein könnte, was sic glanbcn, indem sic ja viel älter seien nnd es daher wohl bei ihr in's Gewicht fallen müßte, was sic eigentlich von dcr Sache hielten. Sic möchten ihr von „Galloping Dick" erzählen nnd ihr sagen, ob er jetzt noch gesehen würde. „Sei doch still, Mädchen!" wiederholte Fräulein Priscilla, wenn auch nicht mchr in so bösem Tone, wie vorhin. „Es ist nicht gut von ihm zn sprechen — nnd zumal in einer solchen Nacht!" „Aber ich möchte doch so gerne von ihm hören," beharrte Madge. „Wann» sollte cs nicht gnt scin, von ihm zn sprcchen? Wclchc Tborhcit! Das kann kcincm Mcnschen schaden, deshalb erzählen Sie mir von ihm, Fränlein Priscilla; ich bitte Sie darum, denn Keiner kann so gnt erzählen, wie Sie. Ich weiß, daß er ein'Nänbcr gewesen ist, dcr vor nngcfähr zwcihundcrt Jahren am Galgen ge endet hat; davon will ich nichts mchr wissen, sondern unr, wie cö jctzt mit ihm ist nnd wann er zuletzt gesehen worden ist." „Das sind nngefäbr fünf Jahre her," cnt- gcgneteFränlein Priscilla im halben Flüstertöne. Schrecklich, wie der Gegenstand ihres Gc- sprächS war, nnd wie sehr sich auch im Grnndc fürchtete, davon zn sprcchen, so fehlte doch auch Fräulein Priscilla die so echt weibliche Vorliebe für das Schreckencrrcgendc nicht, und gewährte es ihr ciue Art Freude, sich selbst so wohl, wie Andere ängstlich zn machen. Außer dem hatten dic wiederholten Bitten von Madge, sowie ihrc wohlangcbrachtc Schmeichelei ihre Wirkung nicht verfehlt. „Und was geschah dann, als er damals zuletzt gesehen worden?" fragte Madge weiter. »Iw Pfarrhanfe brach Fcncr ans und Fräulciu Älicc kam in den Flammen um," er widerte Fräulein Priscilla. „Wie schrecklich!" flüsterte Madgc. „ES ist also immcr ctwaö Schlimmes, was passirt, wenn er gesehen worden ist?" „Immer," entgegnete Priscilla feierlich. „Haben Sic ihn jc gchört oder gcsehcn, Fränlein Priscilla?" „Ich, Mädchen?" — sie zitterte am ganzen Leibe, während sic jprach. „Das möge der Himmel verhüten! Wenn ich den „Galloping Dick" erblicken sollte, oder ihn hören, so würde ich nicht glauben, den nächsten Morgen zn er leben. Meine Mutter hat ihu kurz vordem mein Vater starb, gesehen, glaube ich, doch haben wir nie davon gesprochen." „Es wäre schrecklich, wenn wir ihn hören sollten — und was alsdann wohl passircn würde?" sagte Madge halb fragend. „Scin Erscheinen hat stets den Tod im Gefolge," war PriScilla's Antwort. „Ich wollte, daß Ihr Beide rnhig wäret," fiel hier Agathe ein. „Ihr habt mich ganz nervös gemacht; ich bin überzeugt, daß ich nicht im Stande sein werde, auch nur eiuen Augenblick während dieser furchtbaren Nacht zu schlafen." „Horcht, was war das?" schrie Madge, plötzftcb sich voll Entsetzen an den Tisch sefttlammcrnd. Und wahrhaftig, während sie noch sprach, vernahmen sic deutlich den Klang von Pfcrdc- husen, wie selbige in wahnsinniger Eile den Weg entlang flogen, während durch dic wilde, stürmische Nacht ein Schrei drang, welcher, wie von einem wilden Thiere Hcrrührend oder dcr Angstschrei einer gepeinigten Seele klang. „Gott siehe uns bei!" schrie Fräulein Priscilla aufspringend und ihre Hände zum Himmel cmporstreckcnd. „WaS sollen wir an- fangcu? O, was sollen wir beginnen? Es ist „Galloping Dick", Schwester — unsere Zeit ist gekommen!" Scbwestcr Agathe, welche schwächer war, als Priscilla, siel halb bcsinnnngSlos vorwärls gegen den Tisch. Madgc crröthctc bis nntcr'c Haar nnd stand anfgcrichtct mit klopfendem Herzen und halbgeöffnetem Munde da. „Fränlcin Priscilla!" stammelte sic zulctzt, als ob dcr Schreck ihrc Znugc gelähmt habe; „was war das? War das wirklich „Galloping Dick»?" „Schweig! Kein Wort mehr davon," sagte Priscilla. „Wir haben bereits zuviel gesagt." „Horch! Da ist cs wieder," ries Madgc. Und abcrmals dröhntcn dic Hnfschlägc eines Pferdes in dcr Nähe dcü Hanscs nnd dicht vm dcm Eingänge' dcsselbcn und wiederum ertönte dcr Schrei, wclchcr bis in den entlegensten Winkel zn dringen schien nnd das Gehirn dcr Hörer zu zerreißen drohte, dann wurde es plötzlich still und nur dcr Wind schien noch an Gewalt zngcnommcn zu haben. Nach Verlauf von einigen Minuten ließ sich ein lautes- Klopfen an dcr Thürc hören nnd eines Maunes Stimme rief: „Hülfe! Hülfe! Um dcr Barmhcrzigkcit willen, macht mir ans!" Dicö rief die Frauen von den Schrecken einer nnsichtbarcn Welt zn der Wirklichkeit, vielleicht den Gefahren dcr nnsichtbarcn Wclt zurück. „Ncin, ncin!" kreischte Fränlcin Priscilla; „wir könncn Euch nicht hcrcinlassen, wcr Ihr auch scin mögt." „O, Fränlcin Priscilla, welche Grausamkcit! In solch' schrecklichem Wetter und daun, waü wir soeben gehört! Sie müssen ihn cinlasscn — cS ist gewiß ein Fremdcr, dcr sich vcrirrt hat — was kann dcr unö thnn?" ricf Madgc. „Ich will nicht!" ricf sic heftig. „Ihn cinlasscn? Unmöglich! — Er kann nnö ja Allc morden wollen — oder cs kann am Endc „Galloping Dick" selbst scin!" Ein wicdcrholtcö Klopfen ließ sich jetzt hören. „Hülfe!" ricf eine verzweifelt klingende Stimme. „Wenn Ihr Christen seid, so rettet mich!" „Ncin, geht fort," schrie Priscilla voller Angst. „Schämt Ench doch — Ihr seid Frauen, von denen man doch Mitleid erwartet," ries jetzt Madgc im Tonc höchster Entrüstung. „Wenn Sic nicht öffnen Wollen, Fräulein Priscilla, so werde ich cS thun " fuhr sie fort, und bevor noch die Letztere sie hindern könnte, war sie nach dcr Thür gccilt und hatte dieselbe den. Fremden geöffnet.' Dieser wankte herein nnd sank erschöpft auf den nächsten Stnhl nieder. Er sah bleich nnd verstört ans; so bleich in dcr That, daß sein Gesicht förmlich kreideweiß anösah. Scin langcs, schwarzes Haar hing wirr nnd naß bis ans seine Schultern herab; sein dicker Schnurr- und Backenbart, welcher seine Züge fast verbarg, triefte cbcusallö von Nässe nnd seine ganze Erscheinung machte den Eindruck eines Mcnschen, der völlig vow Schrecken und Angst überwältigt worden. Dennoch aber hatte sein düsteres Antlitz mit den kleinen, grünlicbcn Angen nnd dcr gcbogcncn Nase etwas allzu Lauerndes, was schlecht mit der erschöpften Haltnng in Einklang zu briugen war; außer dem hätte cs einem aufmerksamen Beobachter nicht entgehen könncn, daß zwischen Madgc nnd dcm Frcmdcn ein Blick gewechselt wurde, der sehr auffällig war. „Wasser!" flüsterte er. „Ich sterbe." „Wasser fehlt 'Ihnen?" sragte Madge, wclchc Plötzlich den Obcrbcfehl übernommen hatte; „wcr hat Ihnen ein Leid zugcfügt?"