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«NILd '") N^W vLS^LLLLLL^^LLLLLLLLLL^LLLL^^LL^L^L^ L^dS s^-S^ T^-dS 8ckuimeifters I^ore. Nvinn» von Hans Torcnbnrg. (Fortsetzung.) s Gräfin zuckte zusammen. Ihr seines Gesicht ivurde ganz blaß. sie all diese Leute haßte. Das ging nun schon seit Jahren auf diese Weise. Aber nun halte alle Not bald ein Ende. Ein unsagbar stolzer Ausdruck kam in ihre Augen. „Ick werde selbst mit diesen Leuten sprechen," sagte sie kühl. „Rufen Sie mich gefälligst, sobald wieder jemand mit einer Rechnung kommen sollte. Es ist eine un glaubliche Unverschämtheit, daß Sie sich bei diesen kleinen Vergeßlichkeiten nicht anders zu äußern verstehen." Jetzt ging sie wirklich und dem Mädchen blieb nichts übrig, als das nämliche zu tun. — Gräfin Welchen aber atmete auf, als wenn ein Stein, der schwer auf ihrer Seele ge legen und alle Freude und Lust am Weiter leben langsam zu zermalmen gedroht hatte, in das Nichts rollte. — Adda Welchen schlief nicht mehr. Aber sie blieb dennoch bewegungslos liegen, als jetzt die Mutter zu ihr eintrat. „Lies dir einmal die Karten durch, Adda," sagte sie stolz. „Alle, die uns ab getan und vergessen hatten, tauchen plötzlich wieder auf. — Natürlich habe ich keinen von ihnen angenommen. Sie sollen doch merken, wie wir jetzt, nun wir wieder im Glück stehen sollen, über sie denken." Jetzt öffnete das schöne Mädchen die Augen und sah amüsiert zu ihrer Mutter hin. „Du verstehst es wirklich Prachtvoll, Mama, alle Dinge so zu deuten, daß sie bei nahe richtig wirken. — Machen wir uns doch nichts vor. In Wahrheit hat meins schöne Mama nur wieder zu lange ge schlafen — Bruder Egon, der große Künst ler, den sie gestern so erhebend herzhaft aus gezischt haben, denkt ebenfalls nicht daran, sich zu ermuntern — und die Prinzessin darf um keinen Preis gestört werden. — Da bliebe also nur als Empfangssalon die Küche übrig. Ich bezweifle aber, daß die in einem Zustande ist, den man fremden Leuten ent hüllen darf." Die Gräfin seufzte tief auf. „Woher hast du nur diese unbarmherzige Art, Kind?" „Ach, Mama, die habe ich nur manchmal. Im großen und ganzen verstehe ich mich eigentlich sehr gut allen Dingen anzupassen. Komm mal her, kleine Mama, und beichte — ist unsere Prinzessin noch wütend, daß ich ihr die gute Partie fortgeschnappt habe?" „Du solltest nicht immer in solchem Ton von deiner einzigen Schwester sprechen!" „Die Gräfin Lilli Welchen gab sich zu weilen — ehe ich das schlichte Kleid der Schwester anzog — vielmehr als meine er bittertste Feindin denn als meine Schwester, Mama." „Gott, sie war jung, Adda, viel jünger als du — und versprach sich so viel vom Leben. — Denke nur, wie es sie traf, als das Unglück kam." „Meinst du wirklich, härter als mich, Mama? — Ach, wenn du eine Ahnung hättest -" Die schmale Frau, die einst die gefeiertste Schönheit der Berliner Gesellschaft hatte sein dürfen, zuckte nervös zusammen, denn sic haßte nichts so sehr, als Szenen und Aus einandersetzungen. — Sie schien zu wachsen, als sie jetzt einen Brief entfaltete und lang sam zu lesen begann. — „Hochverehrte, gnädigste Mama . . . Dio schöne Langschläferin richtete sich ein wenig empor und sah mit einem sonderbaren Lächeln zu den grünen alten Bäumen des Hofes hinaus, die hier, auch diesem Garten haus der stillen, vornehmen Kleiststraße, einen kurzen Lenz schaffen wollten. „Darum hatte ich auch gestern keinen Brief von Hagen," sagte sie nickend. — „Er wollte, nachdem er von der Verlobungsfeier mit seiner Braut und seiner ganzen zukünf tigen Familie Wieder in dm Königlichen Dienst zurückkehren durfte, erst von seinem Bruder hören, ob wir das Pfingstfest auf dem Schloß seines Bruders verleben dürfen." „Warum ist dein Ton so sonderbar, Adda?" „Ich bin mir dessen nicht bewußt. Ich habe nur etwas wie Ehrfurcht vor diesem Schloßherrn, der nun schon nach der Mei nung der bedeutendsten Aerzte zwei Jahre andauernd — stirbt —" „Wie entsetzlich herzlos das nun wieder klingt, Adda!" „Finde dich damit ab, Mama, daß ich nicht anders geartet bin. — Du hast eings- sehen, daß zuweilen diese Begabung sehr nützlich ist. — Ich habe mich von dem Manne, mit dem ich vier lange Jahre heim lich verlobt war, losgerungen — um euch nicht weiter darben zu lassen —" „Sprich um Himmels willen ein wenig leiser, Adda. Man könnte dich hören." „Wer — die Prinzessin? Lasse ste. Sie weiß doch längst alles. Sie ist klüger wie wir beide zusammen, Mama. — Sie will nämlich mit dem Geld, das ihr der Freiherr von Wendichow demnächst zur Verfügung stellen soll, Medizin studieren. Das wünscht sie sich feit Jahren doch schon brennend." „Das ist mir ja ganz neu! — Wie kommst du denn darauf — ich hätte doch zuerst etwas davon merken müssen?" In diesem Augenblick öffnete sich hastig die Tür. Auf der Schwelle erschien ein zierliches, dunkelhaariges Mädchen, das blaß und verweint aussah. „Ich habe die ganze Nacht kein Auge zutun können," stieß sie hervor, „wie furcht bar hat sich doch Benno blamiert. Habt Ihr das gar nicht empfunden? Gelacht haben sie über ihn. Einen Grafen Melchen einfach ausgelacht. Es ist schmachvoll. Ich gehe jetzt unverzüglich zu seinem Lehrer. Der trägt doch die Schuld an allem. Wie konnte er ein Hervortreten bei dieser Un fertigkeit überhaupt gestatten?" „Ich fand manches ganz nett," warf die Gräfin schüchtern ein. „Und bist wirk lich der Ansicht, daß dies genügen darf, Mama? Lieber Gott, in welchem Fahr wasser treibt Ihr denn eigentlich? Ach so —. Ihr schlaft ja noch alle miteinander. Aber ich kann da nicht mehr mittun. Ich bin plötzlich aufgewacht. Ja, seht mich nur an. Adda hat schon alles herausgegähnt. — Meine Leiden, meine Wünsche. Sie hat die Wahrheit gesprochen. Ich wollte so von Herzen gern arbeiten, mich ekelt hier alles so unsagbar an. Ehe ich so weit war, den richtigen Weg aufzuspüren, freilich, da dachte ich auch an eine reiche Heirat. Das kann man mir auch nicht zur Last legen.-Jch wußte und sah ja nichts anderes. Eine Sünde wäre es erst jetzt, wo ich einen klaren, andern Weg gesehen habe." „Wovon sprichst du eigentlich, Lili," fragte die Gräfin matt. „Ach so, das wißt Ihr noch nicht mal. Dann freilich . . . Ich lief in Schleiern und Angst. Addas Reden, die ich Wort für Wort gehört habe, rissen sie mir erst entzwei." „Ich habe dich gleich gebeten, daß du leiser sprechen mögest," sagte die Gräfin vorwurfsvoll. „Du hörst ja, Mama, daß unsere Prin zessin dadurch ein glückliches Erwachen ge funden hat." Das kleine dunkelhaarige Mädchen sprang auf die schöne, stolze, blonde Schwester zu. „Sag' das entsetzliche Wort nicht noch einmal, Adda. Sonst könnte ich noch zu einem andern gehen, außer zu dem gewissen losen Lehrer unseres Benno. Weißt du zu wem? Aach, ha. Du zuckst zusammen! Ja, ja, ich war schon früher, wie du sagtest,, deine Feindin. Damals beneidete ich dich um die Bewunderung, die dir zufiel. Heute, möchte ich dich ein wenig verab scheuen. Aber habe-keine Angst, ganz leise und gehaltvoll nur. Du hast dich verkauft, liebe Adda. Der Preis scheint mir ja aller dings nach den neuesten Nachrichten noch etwas ungewiß zu sein, denn, wenn dieser Majoratsherr achtzig Jahre alt Wird, habt Ihr beide — Mama und den gräflichen Bruder noch dazu auf dem Halse — nichts zu lachen. Also, rate mal, zu wem es mich von rechtswegen auch noch hintreibt? Zu deinem Verlobten, mein Herz. Denn er hat dich nur zu seiner Braut gemacht, weil er wähnt, daß du von glühender Liebe zu ihm erfüllt, ohne ihn verkümmert wärst. Hübsch und stimmungsvoll, nicht wahr? Adda von Welchen an gebrochenem Herzen iin Sarge." „Höre jetzt auf," rief die Gräfin empört. „Laß sie doch noch ein wenig, Mama," lächelte Adda von Melchen, „ich finde ihre Art in neuester Zeit recht amüsant. Also — was wolltest du meinem Verlobten denn noch weiter sagen, Kleine?" Da begann das junge, unreife, leiden schaftliche Kind plötzlich wild und heiß zu schluchzen. Sie warf sich mit einer ruckartigen, hastigen Bewegung in einen Sessel und schlug die Hände vor das Gesicht. „Wie schäme ich mich doch vor allem und allen. Und nun auch das noch. Zusehen müssen, wie ein anständiger, grundguter Mensch so hintergangen wird." „Du liebst wohl gar meinen Hagen, kleine Schwester?" Ein flammendes Rot glühte unter den Fingern auf. „Ich liebe die Wahrheit. Immer habe ich sie schon geliebt. Aber den Mut, sie zu sagen, fand ich erst in dieser Nacht! Geratet außer euch, suchet mit allen Mitteln mich umzu stimmen, es gelingt euch nicht mehr! Es ist alles beschlossene Sache. Du, Mama, kannst ja freilich an den Vormund tele graphieren. Aber ich rate dir, fpare die Ausgabe zu wichtigeren Dingen. Der Schlächter z. B. ist wirklich geduldig genug gewesen Denn mein Vormund, Onkel von Wichert, weiß und billigt bereits alles. Geld zum Studium besitze ich nicht. Darum trete ich im Waisenhaus auf der Säuglings station als einfache Pflegerin ein. Ja, Mama, das werde ich hinfort sein. „Und der Vormund willigt ein? .Fs kann doch nicht die Wahrheit sein?" „Er hat mich selbst, nachdem er sich von ESSSSSLSSSSSSSSSSSSSSSSS-SSSSSSSSSSS» m» »MM L-S-LL-LLLSS-SLLLLLLSLLSSSLSSLLSLSLSS««-» seelische Entwicklungszeit lag, wieder in das alte Verhältnis herzlicher Kameradschaft ! wenngleich sie mir vielfach in ihrem Wesen jetzt noch zurückhaltender erschien als früher, i Auch zwischen ihr und Ludwig ließen sich die gegenseitigen Beziehungen gar nicht besser denken. Obwohl letzterer reichlich fünfzehn Jahre älter war, als feine junge Frau und die Zeichen einer jugendlich- I heißen, impulsiven Liebe bei beiden fehlten, ! machte die Ehe auf mich dennoch den Ein- j druck eines durchaus glücklichen Lebens- bllndnisses. Zwei schöne Jahre verlebten wir so, bald zu dreien in herzlicher Ein tracht, bald in einem langsam wachsenden Kreis gemeinsamer Bekannten. Ich muß sagen, daß meine Zugehörigkeit zu den beiden Prächtigen Menschen mir nicht nur Freude, sondern darüber hinaus ein harm loses sonniges Glücksgejühl gegeben hat. Da traf uns drei eines Tages ein nieder schmetternder Schlag. Ludwig erhielt ein überaus günstiges Angebot nach Cincinnati als Betriebsdirektor einer großen deutsch amerikanischen Jndustriegesellschaft. Das bedeutete das Ende unseres schönen Zusam menlebens, denn Ludwig hätte kein ehr geiziger, strebsamer Ingenieur sein müssen, um mit der Zusage auch nur einen Augen blick zu zögern, trotzdem ihm selbst der Ge danke, aus den gewohnten liebgewordcnm Verhältnissen scheiden zu müssen, hart genug ankam. Ich hatte geglaubt, von uns dreien den bevorstehenden Wechsel am schwersten zu empfinden. Als ich jedoch zuweilen in min- ! derbewachten Augenblicken gewahrte, wie tief bei meiner Kusine die Angelegenheit in ihr Seelenleben eingriff, beherrschte ich mich mit verdoppelter Willenskraft. — — — So kam die Abschiedsstunde heran. Lisa hatte in den letzten Tagen mehr Zurückhal- . tung als je gezeigt und mir wollte scheinen, als wurde besonders ich davon betroffen. Hatte sie mein gemachtes sorgloses Gesicht für den Ausdruck wirklicher Gleichgültigkeit genommen? Der Gedanke störte mich unge mein. Noch auf dem Wege zum Bahnhof machte er mir zu schaffen. Ich fand Lud wig und Lisa bereits am Zug, der in einer Viertelstunde abgehen sollte. Die Minuten bis zur langen, vielleicht immerwährenden Trennung gingen wie auf Flügeln dahin. Der Zugführer fchritt die Wagenreihe ab und forderte die Reisenden auf, ihre Plätze einzunehmen. Ludwig drückte mir noch ein mal herzlich die Hand und stieg dann schnell zuerst in den Wagen; offenbar wollte er mir seine innere Bewegung nicht verraten. Lisa jedoch zögerte noch einen Augenblick. Und plötzlich fühlte ich ihren Arm sich um meinen Nacken schlingen, ihr Mund berührte den meinen in einem kurzen, scheuen Kuß. Ich wußte garnicht wie mir geschah. Von der Ueberraschung mitgerissen, gab ich un- willkürlich den Kuß zurück. Als ich die Ver wirrung über diesen unerwarteten Vorgang j wieder abgeschllttelt hatte, war Lisa bereits eingestiegen, die Maschine stieß einen grellen, heiseren Pfiff aus und der Zug rollte lang- sam aus der Bahnhofshalle. Ludwig er- schien noch einmal allein am Fenster seines Abteils und winkte mir einen letzten Ab- , schiedsgruß zu, den ich mechanisch erwiderte, i bis die zischende eiserne Dampfschlange ! meinen Blicken entschwand. Man Pflegt sonst in solchem Augenblick das Gefühl einer plötzlichen Leere in sich zu spüren. Ich kam an jenem Tage nicht dazu, denn in meiner Seele fieberte mit einem Male eine seltsame Unruhe. Der Kuß ! Er hatte mich völlig aus dem seelischen Gleich gewicht gebracht. Schließlich war's ja nicht einmal etwas Außergewöhnliches, wenn eine junge Frau, im Begriff für immer nach einem fernen Weltteil überzu siedeln, ihrem Vetter auf dem Bahnhof einen Abschiedskuß gab. Gewiß nicht — und dennoch! Ich sah Lisas Augen wieder vor mir, diese großen, braunen, traurigen Augen, die sekundenlang so dicht vor den meinigen gewesen waren. Hatte sich in ihnen nicht blitzartig eine sonst ver schlossene Tiefe aufgetan, nicht etwas Fremdes, Wunderbares darin geleuchtet, traurig und auch wieder innig zugleich? Nie zuvor war es einem von uns in den Sinn gekommen, von dem Recht des ver wandtschaftlichen Kusses Gebrauch zu machen. Freilich, die Gelegenheit war heute eine besondere, aber -ich hatte nicht im geringsten daran gedacht, und wenn der Mann ein solches Vorrecht nicht wahr nimmt, machte ein Weib von Lisas Wesens art wohl schwerlich den Anfang damit. Wie der mußte ich jenes fremden Ausdrucks den ken, der während des Kusses aus ihren Augen sprach. Und plötzlich war's mir, als risse jemand eine Wand nieder, die bis jetzt hart vor mir gestanden, und mein Blick dränge nun mit einem Male in neue, unge kannte Weiten. Dieser verwirrende Kuß, den ich noch auf meinen Lippen fühlte, hatte nichts mit der Familienverwandtschaft zwi schen Lisa und mir zu tun. Er bedeutete unzweifelhaft den impulsiven Ausbruch eines ganz anderen Gefühls, die Augen blickserlösung von einem lange getragenen, lange und unter Schmerzen verheimlichten Zwang: Lisa liebte mich! Das Weib in ihr liebte den Mann in ihr und war im Mo ment der Trennung für's ganze Leben nicht stark genug geblieben, ihr heißes, nach außen drängendes Geheimnis in sich verschlossen zu halten. Das war's! Arme Lisa! Ihr herbes Geschick erschütterte mich noch tiefer, als mich der Gedanke an Ludwig zum Bedauern zwang. Denn der fühlte sich der Liebe seines Weibes sicher — — wie der Blinde, der über dürres Heideland geht und sich dabei in einem Blumengarten wähnt, solange ihm niemand die Wahrheit sagt. Lisa jedoch konnte das Leben keine Blüte, keinen Duft, keine Frucht mehr geben. Und ich — — ich selbst? Noch nie war mein Gewissen so rein gewesen als hier; noch nie mein Herz so ruhig und nur der innigsten Freundschaftsgefühle voll als meiner Kusine gegenüber. Jetzt aber begann in mir alles unklar durcheinander zu treiben. Immer wieder glaubte ich Lisas Kuß auf meinem Munde zu fühlen, und ihr konnte es nicht anders ergehen. Das scharfe Zischen entweichenden Dampfes schreckte mich aus meinem Nachgrübeln auf. Ich stand wahrhaftig noch immer auf dem Bahnsteig und ein Blick auf die große Uhr zeigte mir, daß ich seit Ludwigs und Lisas Abfahrt fast eine halbe Stunde hier vcr- träumt hatte. Ich hätte mich wundern müssen, daß inan mich so lange auf meinem Platz geduldet, wäre mir nicht an dem Bahnhofspersonal eine ungewöhnlich; Er regung aufgefallm. Der Mann an der Sperre stand nicht mehr auf seinem Posten und ich mußte mir entgegen der Vorschrift die Kette selbst aushaken, um durchgehen zu können. Indessen war ich zu sehr mit dem Wirrsal in meinem Innern beschäftigt, als daß ich augenblicklich von außen her kom menden Erscheinungen weitere Aufmerksam keit geschenkt hätte. Ich fühlte jetzt einfach kein Interesse an den Angelegenheiten ande rer Menschen. So verließ ich den Bahnhof und begab mich in zerfahrenster Stimmung an meinen amtlichen Zeichentisch. Schon eine Stunde später sollte ich durch ein Zei tungsflugblatt erfahren, welche Ursache vor hin das Bahnhosspersonal in Aufregung gebracht hatte." Hier mußte Walser im Sprechen inne halten. Ihm schwankte die Stimme. End lich reckte der Baurat sich mit einer kurzen, straffen Bewegung hoch und nahm wieder das Wort: „Erlaßt es mir, euch von dem letzten Kapitel meines Berichtes mehr als kurze Umrisse zu geben. Es war etwas Fürchter liches geschehen. Bald hinter dem Weichbild der Stadt war ein einlaufender Schnellzug falsch über die Weiche gegangen und in den Zug hineingerast, der meine Kusine und ihren Gatten nach dem Seehafen bringen sollte. Das Flugblatt sprach von vielen Toten und Schwerverletzten. Fieberschauer ! der Ungewißheit schüttelten mich. Ich jagte im Automobil sofort aus der Stadt nach der Unglücksstelle. Schreck liche Stunden folgten, bis Militär und Bahnpersonal das Trümmcrgewirr ge lichtet hatten und ich endlich vor den ver stümmelten Leichen Ludwigs und Lisas stand. — — Mit meinem Kuß aus j den Lippen hatte sie die Welt verlassen. ! Vielleicht war dieser Ausgang bei all' seiner ! Furchtbarkeit für beide Erlösung von dro hendem Seelenelend. Denn so harmlos j mein eigner Kuß auch war, er mutzte für > das arme, in heimlichen Foltern ringende Weib eine unendliche Bedeutsamkeit erlangt haben. Nun aber ging diese innerste Kon sequenz von ihr auf mich über. Der Kutz, den ich von Lisa empfangen und in den die geheimsten und stärksten Regungen ihrer Seele hineingeströmt waren, wurde mir zu einer tiefen, richtunggebenden Erinnerung. Hatte die Abschiedsminute schon unklar , - Lisas Unterbcwußtsein eins Ahnung dc Kommenden sich regen lassen? Es gibt Stunden, in denen ich diesem Glauben zu neige. Jedenfalls blieb die Erinnerung an ihren Kuß Mir seither ein teures Vermächt nis, unantastbar und heilig. Ich bin kein Frauenfeind geworden, da ich mit Lisa nicht Liebe, sondern innigste Freundschaft be grub; aber niemals mehr hat mein Mund Frauenlippen berührt. - — - — lleber legt euch, ob mein Bericht nicht doch denen unter euch recht gibt, welche die aufgetauchte Streitfrage so beantworten wie ich es vor- hin^itat. Und nun kommt zur Gegenwart zurück, denn die Nacht rückt vor." . Walser füllte sein Glas, neigte es, als tränke er einem unsichtbaren Festgenossen zu. Wir alle wußten, wem es galt. Keiner von uns hätte es über sich gebracht, die düstere Weihe dieses Augenblicks durch ein armes Wort zu verscheuchen, selbst der Doktor nicht, der sonst jedem Stimmungsbann zu trotzen ! suchte. Auch vor seinen Geist trat Wohl ! aus dem Nachtdunkel die keusche, blasse ! Gestalt einer Märtyrerin hin. — — —