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3 Mochte auch die Untersuchung Manches an das Licht geführt ' haben, dunkel und räthselhaft blieb Vieles — selbst der Anklage ge lang es nicht völlig die einzelnen Widersprüche zu verdecken, die diese ganze Angelegenheit so unentwirrbar gemacht. Der alte Gärtner beharrte bei seiner Behauptung, daß nur die Magere, Blonde, also Fräulein Meltzer im Garten gewesen; er hatte sie mit großer Bestimmtheit wiedererkannt, und Proben, die man mit seinem Sehvermögen angestellt, bewiesen, daß er wirklich aus weiter Entfernung noch die Gcsichtszüge eines Menschen genau unterscheiden konnte. War seine Behauptung richtig, dann konnte nur Eleonore die Mörderin sein. Für ihre Schuld sprach aber nichts weiter, als die Aehnlichkeit ihrer Handschrift mit dem aufgefundenen Zettel. Wie war sie dann in den Besitz des Medaillons gekommen? Selbst Ernestine hatte bisher nicht die Behauptung aufzustellen ge wagt, daß es Fräulein Meltzer ihr kurz vorher entwendet habe. Und doch, wenn Eleonore wirklich die Mörderin war, mußte es der Fall gewesen sein und diese absichtlich das Medaillon hingeworscn haben, um auf ihre Gesellschafterin den Verdacht zu lenken. Die Vernehmung der Zeugen war erfolgt, sie hatte nur die be reits bekannten Thatsachen bestätigt und nun erhob sich Fräulein Meltzer zu ihrer Verantwortung. Aller Augen richteten sich mit gespannter Erwartung auf die ^Angeklagte und man suchte das leiseste Zucken ihres Antlitzes zu be lauschen. Die Mühe war umsonst. Das kleine magere Frauenzimmer schien Stahlnerven zu haben; nichts regte sich in ihrem kalten, ruhigen Antlitz, nicht einmal ihre grauen Augen belebten sich etwas und so kühl und geschäftsmäßig, als habe sie über irgend eine unbedeutende Angelegenheit Auskunft zu geben, ertheilte sie ihre Antworten, die an Klarheit und geistiger Schärfe nichts zu wünschen übrig ließen. Daß sie sich in der Nähe des Barons angesiedelt, war ein reiner Zufall und nicht, wie die Anklage hervorgehöben, der Anfang eines wohlüberlegten Planes. — Sie war stets dem Worte ihres Erlösers eingedenk gewesen und hatte dem Baron die unbedeutende Kränkung längst verziehen. — Sie habe oft auf kleinen Zetteln Bibelstellen aus geschrieben, die sie dann als Buchzeichen benutzt. So nur könne sie sich erklären, daß sich eine Handschrift von ihr bei dem ermordeten Kinde vorgefunden. So läutete ihre Verantwortung, die sie mit einer Ruhe und Be stimmtheit von sich gab, die entweder ein ruhiges Gewissen oder die älteste Heuchelei bekundeten. Die Frage des Präsidenten, ob sie denn vermuthe, daß Fräulein Liebig einen dieser Zettel benutzt habe, wagte sie anfangs nicht zu bejahen, als aber der Gerichtsbeamte in sie drang, daß sie unbedingt diese Behauptung aufstellen müsse, wenn nicht ihre Angaben hinfällig erscheinen sollten — schwieg sie hartnäckig, doch mit einer Miene, die andeutete, daß sie ihre arme Freundin schonen wolle. Ernestine schien wenig von dieser Rücksicht erbaut; ihre dunklen Augen blitzten unheimlich, ihre Lippen zitterten vor Wuth. Und trotzdem sichtlich das Auftreten ihrer Freundin sie mit wildem Haß erfüllte, zahlte sie nicht mit gleicher Münze heim. Ihre Auslassungen enthielten Nichts, was Fräulein Melzer noch mehr verdächtigen konnte, obwohl ein schärferer Beobachter deutlich zu bemerken vermochte, wie schwer ihr dies Opfer siel, das sie wenn auch nicht der Freundin, doch ihrer ehemaligen Wohlthäterin brachte. Fräulein Meltzer war es durch ihren Neickthum leicht geworden, ebenfalls einen ausgezeichneten Vertheidiger zu gewinnen, dem cs wirklich gelang, durch seine Beredsamkeit die Meinung der Geschwornen so weit zu erschüttern, daß sich wenigstens nicht die genügende Majorität für ihre Verurtheilung fand. Ihre Freisprechung mußte deshalb er folgen. Dasselbe geschah mit Ernestine Liebig. Es galt über Tod und Leben zu entscheiden — wie viel auch Verdachtsgründe Vorlagen, der größeren Hälfte der Geschwornen genügten sie doch nicht um das Schuldig auszusprechen. Trotzdem kam Ernestine Liebig nicht mehr auf freien Fuß. Der Staatsanwalt erhob sofort die Anklage wegen vcsuchten Giftmordes, den sie ja selbst zugestanden. (Fortsetzung folgt.) Die Augen auf! Die Klagen über zunehmende Sittenlosigkeit auch bei uns in Deutschland sind ebenso allgemein wie begründet. Ueberall empfindet man es, am meisten in den großen Städten, und die statistischen Tabellen beweisen es mit Zahlen. Und es sind nicht blos die nied rigen Kreise, in welchen der Geist sittlicher Verwilderung sein zerstö rendes Wesen treibt; er ist in alle Stände eingcdrungen und wahr haft erschreckend ist, wie das Gewißen und die sittlichen Grundsätze so viel von ihrer alten Macht in unserem Volke eingebüßt haben. Männer, die ihr Vaterland werlh und hoch halten, haben längst auf diese höchst bedenkliche Erscheinung aufmerksam gemacht. So schreibt Gustav Freitag: „Plötzlich und riesengroß wuchs die Krankheit; auch wer sein sicheres Selbstgefühl bewahrte, empfindet mit Schrecken, daß Alles um ihn her schwankend wird, daß die Begriffe von Ehren haftigkeit und Scham in den Seelen dahinschwinden." Und Lasker sagt in einer seiner Kammerreden: „Ein arger Materialismus nimmt überhand, die Demoralisation ist über uns hereingebrochen, unser Name hat im Ausland einen Makel erhalten." Der berühmte deut sche Culturhistoriker und der nicht weniger berühmte Volksvertreter haben nicht übertrieben, ja, die sittliche Verdcrblheit, die sie haupt sächlich in den höheren Ständen und bevorzugten Stellungen auf suchen und brandmarken, wuchert eben so sehr in den niederen Schich ten und hat schon vielfach die solide Basis der deutschen Nation, das sonst so kernhafteBürgcrthum angefressen. Gründerthum und So zialdemokratie sind zwei äußerlich sehr verschiedene Erscheinungen, aber sie haben einen unverkennbaren innern Zusammenhang: die durch nichts gezügelte Selbstsucht, den rohen Materialismus der Gesinnung. Die traurigen Erscheinungen sind aber nicht erst von heute und sie sind nicht, wie Viele meinen, eine Frucht der französischen Milli arden. Die Milliarden waren wie ein warmer Regen, der die Pilze rasch aus der Erde treibt — aber die Keime waren schon da, weit verbreitet, erst in den höheren Schichten der Gesellschaft, bald in den Kreisen, welche minder gewohnt sind, ihrer Leidenschaft den Zügel äußeren Anstandes anzulegen. Die Unbotmäßigkeit in jeder Form ist großgezogen worden. Wir verstehen darunter eine schlechtverstan dene, übel benutzte Freiheit, ein Sich-los-machen von aller sittlichen Autorität. Sie tritt am schärfsten und am brutalsten auf im Ber- hältniß des Arbeiters zum Arbeitgeber, der Dienstboten zu den Herr schaften, vielfach auch schon der Kinder zu den Eltern. Man fragt wohl, woher das kommt? Die Antwort ist einfach. Sittlichkeit ist nicht eine Frucht des Strafgesetzbuchs, sondern sie geht hervor aus der Anerkennung einer höheren sittlichen Autorität. Dem Kinde sind das zunächst die Eltern und so lange sie ihm das sind, wird es ihnen gehorsam sein. Die höchste sittliche Autorität ist aber Gott, und so lange der Mensch an einen Gott glaubt, an einen per sönlichen, die höchste Sittlichkeit darstellenden Gott, so lange hat er auch das Bestreben, selbst sittlich zu sein. Aber eS ist ordentlich, als ob ein großer Theil der heutigen Schriftsteller, der Tagesblätter und Zeitschriften, der höheren und niederen Schulen sich's zur Aufgabe gestellt hätte, die Menschen von dieser höchsten Autorität loszulösen uud unsern Herrn Gott, wie ein berühmter Prediger sich ausdrückte, „ins alte Eisen zu werfen." Diese zersetzende Arbeit dauert schon Jahre lang, wir fangen erst jetzt an, ihre Früchte zu genießen. Manche ernste, warnende Stimme hat sich dagegen erhoben, mancher gute Patriot sieht mit schwerem Herzen die innere Kraft, den sittlichen Halt unseres Volkes schwinden. — Darum: Die Augen auf, ehe es zu spät wird! (H. Dztg.) Vermischtes. Das nächste allgemeine deutsche Turnfest wird voraussichtlich erst zur Zeit des 100jährigen Geburtsfestes des Turnvaters Jahn im August 1878, und dann in Brjeslau statlfinden. In turnerischen Kreisen werden bereits Veranstaltungen getroffen, um diesen Gedenk tag möglichst festlich zu begehen. Vornehmlich soll zu diesem Zwecke eine in sich abgeschlossene und abgerundete, den turnerischen und all gemein wissenschaftlichen Anforderungen entsprechende Biographie Jahn'S herausggecben werden. In München wurde am 27. Januar der Thatbestand eines scheußlichen Verbrechens durch die Detectivpolizei erhoben. Eine in der Sendlingergasse bedienstete Magd, ein Mädchen von 21 Jahren, hat vor einigen Tagen heimlich geboren, das Kind sofort erschlagen und dessen Leiche sofort am Heerdfeuer verbrannt; in dem Aschen- hüufchen wurden die Knochenreste aufgefunden. Die Tbäterin ist ge ständig und in Haft. Freiherr v. Gablenz der populärste General Oesterreichs, hat in Zürich, wo er bei seinem erkrankten Bruder als Gast weilte, seinem Leben durch einen Pistolenschuß ein Ende gemacht. * Ein französischer Offizier P. in Paris, berüchtigt als Rauf bold, forderte einen Oesterreicher v. Z. um einer Lumperei willen auf Pistolen und erschoß ihn. Als Prahler erklärte er, er müsse erst 10 Mitglieder der Familie v. Z. erschossen haben, ehe er befriedigt sei. Der Bruder des Erschossenen, öftere. Husarenlieutenant, reiste nach Paris, suchte ihn auf und nannte ihn öffentlich einen Prahlhans. Es kam zu einen Duell auf Säbel und im 2. Gange führte der Oesterreicher einen so gewaltigen Hieb, daß er seinem Gegner die Parade durchschlug und ihn», den Kopf spaltete. Unbehelligt verließ er mit seinen Sec-undanten Paris. * Von einem Falle crassenAberglaubens wird aus Strasburg in der Provinz Preußen berichtet. Einem Landschullehrer im dortigen Kreise erkrankte sein Töchterchen. Statt daß man sich an einen Arzt wendete, wurden verschiedene Hausmittel in Anwendung gebracht. Da diese nichts halfen, wandte sich der Lehrer an eine Somnambule. Diese erkannte auch bald, daß des Lehrers Tochter von seiner eigenen Tante behext sei und versprach Heilung des Kindes, wenn ihr die Tante zugeführt werde. Dies gelang und der Heilungsproceß fing an. Es wurden zuvörderst sämmtliche Thüren verschlossen, dann nahmen der Lehrer und seine Frau ihre Tante in die Mitte, hielten sie fest und die Somnambule schlug dieselbe mit einer Feuerzange so lange bis Blut floß. Mit diesem benetzte sie das Kind, wovon dasselbe genesen sollte, was aber bis jetzt noch nicht geschehen ist. Die schwer mißhandelte Tante, der Niemand, aus Angst vor der Somnambule, zujHilfe eilte, hat einen Strafantrag gestellt. Dieser Fall steht nicht vereinzelt da, er ist aber der crasseste, da er auf Ver anlassung eines Volkssckullehrers entstanden ist, der sich allerdings als ein treues und rühriges Mitglied der polnisch-ultramontanen Partei bewährt hat. Nach dem am vergangenen Freitag die Schauspieler-Gesellschaft des Herrn Director Clar ihre Vorstellungen im Nathhaussaal^ mit „Ein glücklicher Familienvater" von Görner, eröffnet hatte, am Sonntag das vieractige Lustspiel von R. Benedix „Der S^g^xasried" vor ziemlich besetztem Hause — nur die sogenannten beH», «Stände- waxen durH ihre Ahwesrnheit Wjretsn — in Scen" genann-