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Ludwig van Beethoven Ouvertüre „Egmont“ op. 84 (zu Goethes Trauerspiel) Es waren große Gedanken, die die Menschen des eben angebrochenen 19. Jahrhunderts bewegten. Ein neues Lebens- und Selbstwertgefühl machte sich breit. Knapp 20 Jahre war es her, dass die Fran zosen mit ihrem Sturm auf die Bastille die scheinbar auf ewig zementierten Herrschaftshierarchien hin weggefegt hatten, und Schlagworte wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit die Vision der künfti gen, einer besseren Welt in greifbare Nähe gerückt erscheinen ließen. Von Idealen war die Rede und von Menschenwürde. Kein Wunder, dass ein aufgeklärter, republikanischer Geist wie Ludwig van Beethoven sich von diesen Ideen und ihrem obersten Repräsentanten, dem Konsul der jungen französischen Republik, Napoleon Bonaparte, begeistern ließ. Um so größer und tiefer aber auch die Enttäuschung und Ernüchterung, als sich der kleine Korse später die Kaiserkrone dann selbst aufs Haupt setzte. Da nannte der Komponist den zuvor Vergötterten erbittert einen „gewöhn lichen Menschen“, einen „Tyrannen“, der „alle Men schenrechte mit den Füßen treten, nur seinem Ehr geiz frönen“ werde. Das Thema Freiheit beschäftigt Beethoven aber auch in Folge und hat in diversen Werken seinen Nieder schlag gefunden. Keine seiner späteren Arbeiten orientiert sich mehr an Menschen; von denen war er, siehe Napoleon, bitter enttäuscht. In seiner Musik versuchte er fortan, Ideale zum Klingen zu bringen. Diesen Idealen folgt bereits die 1810 geschriebene und am 27. Mai des gleichen Jahres im Palais des Fürsten Lobkowitz uraufgeführte E^mont-Ouvertüre. Angeregt zur Komposition dieses Werkes war Beet hoven von Goethes gleichnamigem Trauerspiel. Den entsprechenden Auftrag zur Komposition hatte er be reits im Herbst 1809 vom k.-k. Hofdirektor Joseph Hartl für eine Neuinszenierung des Stücks im Burg theater erhalten. Doch schon zu diesem Zeitpunkt war die Haltung Beethovens gegenüber Napoleon deutlich negativ gefärbt, wie in einem Brief an seine Verleger Breitkopf & Härtel nachzulesen ist: „Ich hab ihn (Egmont) nur aus Liebe zum Dichter geschrieben und habe auch, um dieses zu zeigen, nichts dafür von der Theaterdirektion (sic!) genommen.“ Einer der Helden, die ihm vorschwebten, die für die neue, bessere Menschheit eintraten, steht hier im Kampf mit einer restaurativen, ängstlich die alten Zustände zementieren wollenden Gesellschaft. Und wenn er, Egmont, stirbt, so stimmt die Musik keinen Trauermarsch an, sondern sie bäumt sich auf, sam melt sich zu einer rauschhaften, strahlenden, visio nären Apotheose des letztlich doch siegreichen Hel den. Denn seine Ideale werden weiter leben, werden irgendwann einmal Wirklichkeit. Es ist viel darüber gerätselt worden, ob die musika lische Gestik der Ouvertüre nun das Verhalten Eg- mont/Klärchen, diese tragische Liebe, in einem po litischen Kontext darstellt oder nicht. Nichts davon beweist das Werk in seiner musikalischen Struktur, die einen kunstvoll abbrevierten Sonatensatz mit langsamer Einleitung und einer bewegenden Zäsur - nach dem Ende der Reprise folgt eine Generalpause - umfasst. In den Skizzen notierte Beethoven: „Der Tod könnte ausgedrückt werden durch eine Pause“ - die Welt, die Menschheit hält gleichsam den Atem an. Dann erst folgt der empathische Schlussjubel: eine Analogie zu Fidelio, in dem ebenfalls das über schäumende Finale eine Realisierung des Noch- nichtseins, der wahr gewordenen Utopie für ein paar selige musikalische Augenblicke darstellt. Im Fidelio allerdings auf der Basis der Erlösung, im Egmont auf der Basis des Opfers.