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Zensur im Traum Der Traum ist ein vollgültiges psychisches Phänomen, und zwar eine Wunscherfüllung. Doch wenn der Traum einen erfüllten Wunsch darstellt, woher rührt die oft auffällige und befrem dende Form, in welcher diese Wunschvorstellung ausgedrückt ist? Schließlich kommen doch reichlich genug Träume vor, welche den peinlichsten Inhalt erkennen lassen, aber keine Spur irgendeiner Wunscherfüllung. Und außer diesen Träumen, welche die mannigfaltigen peinlichen Gefühle des Lebens in den Schlaf fortsetzen, gibt es auch Angstträu me, in denen uns die Unlustempfindungen schütteln, bis wir erwachen. Dabei ist jedoch zu beachten, daß die Lehre der Traumdeutung den manifesten und latenten Trauminhalt einander gegenüber stellt. Es ist richtig, daß es Träume gibt, deren manifester In halt von der peinlichsten Art ist. Aber hat jemand versucht, diese Träume zu deuten, den laten ten Gedankeninhalt aufzudecken? Es ist doch möglich, daß auch peinliche und Angstträume sich nach der Deutung als Wunscherfüllung enthüllen. Heißen wir dieses der Erklärung bedürftige Verhalten des Traumes: die Tatsache der Traumentstellung. Wo die Wunscherfüllung unkenntlich und verkleidet ist, da müßte eine Tendenz zur Abwehr ge gen diesen Wunsch vorhanden sein, und infolge dieser Abwehr könnte der Wunsch sich nicht an ders als entstellt zum Ausdruck bringen. In ähnlicher Lage befindet sich der politische Schriftstel ler, der den Machthabern unangenehme Wahrheiten zu sagen hat. Er hat die Zensur zu fürchten und entstellt darum den Ausdruck seiner Meinung. Je strenger die Zensur waltet, desto weiter gehender wird die Verkleidung, desto witziger werden oft die Mittel, welche den Leser doch auf die Spur der eigentlichen Bedeutung leiten. Wir dürfen also als Urheber der Traumgestaltung zwei psychische Mächte im Einzelmenschen annehmen, von denen die eine den durch den Traum zum Ausdruck gebrachten Wunsch bildet, während die andere eine Zensur an diesem Traum wunsch übt und durch diese Zensur eine Entstellung seiner Äußerung erzwingt. SIGMUND FREUD Was du wirst erwachend sehn, l Wähl es dir zum Liebsten schön; I Seinetwegen schmacht und stöhn, I Sei es Brummbär, Kater, Luchs, I Borstger Eber oder Fuchs; I Was sich zeigt an diesem Platz, l Wenn du aufwachst, wird dein Schatz, l Sähst du gleich die ärgste Fratz! OBERON, »EIN SOMMERNACHTSTRAUM«