Volltext Seite (XML)
Die Motette „Jesu, meine Freude“ hat das gleichnamige Lied von Joh. Franck (1655)und einige Verse aus Römer 8 zum Inhalt. Sie nimmt unter den Motetten eine besondere Stellung ein: wie in ihr das Lied der Kirche verwoben ist mit dem heiligen Wort; wie die Stimme der Gemeinde hineingreift in die Tiefgründe paulinischer Theo logie; wie die textliche Gegenüberstellung Fleisch—Geist die künstlerische, fast mathematische Symmetrie der musikalischen Gesamtform begründet, ist sie vielleicht die im engsten Sinne theologische Schöpfung Bachs. Der Mittelpunkt, die Fuge „Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich ... wer aber Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein“, ist zugleich die Achse des Werkes, zu der hin und von der weg die Spruchsätze und Choral verse in vollendeter Gewichtsverteilung führen. Die F ünfstim- migkeit wird durch Terzett- und Quartettsätze aufgelockert; letzte Geheimnisse des Glaubens werden in den „unsinnlichen“ Mund des Knabenchores gelegt („denn das Gesetz des Geistes ... “). An welcher Stelle kirchenmusikalischer Literatur erweist sich die Knabenstimme als der musikalisch-kirchlichen Verkündigung derart adäquat, so rein und ausschließlich als „Mund“, als körperloser, allein referierender Ton des unsagbaren, auch dem schärfsten Intellekt verborgenen Geheimnisses der Botschaft von Christus? — In einprägsamster Vielgestalt, mit teilweise drastisch gemalten Realismen, legen sich die einzelnen Teile wie ein Ring um die Mittelfuge, stets musikalisch und textlich verankert in den Versen des Franckschen Liedes, dazu bei aller formalen und klanglichen Zucht von grandioser Weite der Gefühls welt. Mit dem Schlußvers „Weicht, ihr Trauergeister ..." weiß sich der Hörer geleitet zu dem Frieden, der höher ist denn alle Vernunft, zu der letzten Brücke» hinter der das Bekenntnis „Jesu, meine Freude“ im Schauen Ereignis wird. Der Motette für 2 vierstimmige Chöre „Singet dem Herrn“ (der Leipziger Zeit entstammend und wie sämtliche Motetten als Begräbnisgesänge gedacht) liegen der 149. und 150. Psalm zugrunde. In drei gewaltigen Sätzen werden die Worte der Psalmen aufgeteilt. Im strahlenden B-dur hebt der heilige Lobgesang an; von Stimme zu Stimme wird das weitgespannte Eingangsmotiv weitergetragen, als wenn gleichsam immer neue Menschenmassen, des Gotteslobes voll, sich des Preisens und Dankens nicht genug tun können; unter vollkommener Ausnutzung der achtstimmigen Möglichkeiten, die verschiedensten Stimmgruppen kombinierend, werfen sich in ununterbrochener Bewegung die beiden Chöre fast in ekstatischer Ungeduld das Loblied zu, bis auf der Dominante eine der phantasiereichsten Fugen der Literatur überhaupt anhebt („die Kinder Gottes ...“) und sich zu unnennbarer hymnischer Klangpracht entfaltet. In die Stille kindlichen Gebetes führt der 2. Satz, in der sich beide Chöre streng antiphonierend gegenübertreten, wobei der textliche Vorwurf die antiphonische Form begründet (2. Chor: das Lied der Ge meinde, die übergeordnete Objektivität der Kirche schlechthin; 1. Chor: die stille Bitte der gläubigen Seele in der überindividuellen Gestalt der Vielstimmigkeit). Nachdem der 3. Satz, fast noch stärker deklamatorisch-instrumental, noch einmal die Freudenfülle des ersten aufnimmt, aufgeteilt in prägnant gegenübergestellte Einzelsätze, bricht mit dem 4. in der Zucht strengster vierstimmiger linearer Kon zentration die Schlußfuge herein: „Alles, was Odem hat, lobe den Herrn.“ Siegfried Greis (zur Zeit bei der Wehrmacht)