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Nach London. Die Abmachungen der Londoner Konferenz sind am Sonnabend in London von den Vertretern der beteiligten Mächte sang- und klanglos unterschrieben worden. Die erste Vorbedingung für die Inkraftsetzung des Dawes- Planes, die Finanzierung des kranken europäischen Wirt schaftskörpers zum größten Teil auf Deutschlands Kosten, ist gegeben. Nun bleibt das weitere, nämlich die Tatsächlichkeit des Dawes-Planes in natura; abzuwarten. Deutschland hat, wenn auch unter schwersten Bedenken und unter schließlicher Durchdriickung immerhin recht wesentlicher Vorbehalte, dielen Vorbedingungen des Dawes-Planes gegenüber seine Pflicht getan. Wir wollen nun in den Fehler des Prophezeiens und Philosophierens nicht verfallen; wir wollen abwarten. Die allernächste Zeit wird und muß uns ja lehren, ob die Schaffung der Vorbedingungen des Dawes-Planes nun Europa, nicht einmal allein Deutschland, die Durchführung des Dawes-Planes bringen wird. Werfen wir einen Blick rückwärts auf diese Londoner Verhandlungen und ihre Gutheißung in den Parlamenten der maßgebenden und besonders beteiligten Länder, so wer den wir finden, daß diese Londoner Konferenz im Grunde genommen keinen, bis vielleicht auf einen, befriedigt hat, der bittere Nest der Schale scheint noch größer und nach haltiger zu sein wie nach Cannes und Genua. Ueber die Einzelheiten der Stimmungen und Gefühle, die die Lon doner Konferenz und ihr Ergebnis inDeutschland aus gelöst hat, wollen wir uns hier nicht auslassen. Darüber haben dis soeben zu Ende gegangenen parlamentarischen Kämpfe eine allzu beredete Sprache geführt. Aber nicht nur in Deutschland, sondern auch inEngland ist man nun, wo die Vorbedingungen des Dawes-Planes gewissermaßen perfekt sind, recht ungehalten über das ungeschminkte Ergebnis der Londoner Konferenz. Eg ist wahrlich nicht zu viel gesagt, wenn man als äußerlich recht scharf zutage tretendes Er gebnis dieser Londoner Konferenz eine recht erhebliche Erschütterung MacDonalds als englischen Premier bucht. Es würde in politischen Kreisen nicht wesentlich überraschen, wenn in absehbarer Zeit diese Lon doner Konferenz den Rücktritt MacDonalds herbeisühren, mindestens recht charakteristisch beschleunigen würde. Die an dieser Stelle noch während der Tagung der Londoner Konferenz zum Ausdruck gebrachte Anschauung, daß als vor nehmstes Ergebnis dieser Konferenz die Verschärfung und Vertiefung des englisch-französischen Gegensatzes onzusprechcn ist, hat sich vollauf bestätigt. Aber auch in Belgien, das es so überrascheno eilig mit der parlamentarischen Ratifi zierung der Londoner Abmachungen hatte, ist bei näherem Zuschauen die Uebereinstimmung des belgischen Volkes mit dem, was in London gesprochen worden ist, durchaus keine einheitliche, vollbefriedigende. Am meisten befriedigt mit dem Ergebnis der Konferenz Ist ohne jeden Zweifel Frankreich. Das, was sich in Paris in Kammer und Senat bei der parlamentarischen Gut- heißung der Londoner Beschlüsse abgespielt, ist als nichts anderes wie französischer Theaterdonner zu bewerten. Ohne diese Reklame, ohne diese Geste kann nun einmal dieses Volk an der Seine nicht existieren. Allein das in die Augen springende Ergebnis einer klaren innerpolitischen Festigung Herriots gegenüber Poincarö ist Beweis genug, für eine im Grunde genommene Befriedigung Frankreichs mit den Er- gebnissen der Londoner Konferenz. Wenn man vom kurz sichtigen Standpunkt des Augenblickserfolges aus die Lon doner Beschlüsse bewerten will, so hat auch Frankreich allen Grund zu einer vorläufigen Befriedigung. Herriot ist ohne jeden Zweifel MacDonald gegenüber in London auf der ganzen Linie der Sieger geblieben. Es ist ihm bei den Redereien in London gelungen, ohne besonders tief ein schneidende Zugeständnisse dem Poincaröschen glatten Völker- rechtsbruch an der Ruhr so eine Art wie ein legales Mäntelchen umzuhängen. Der Zufriedenheit Frankreichs mit den Londoner Beschlüssen auf der einen Seite stehen die De- denken Englands und der englisch-anrerikanischen Hochfinanz auf der anderen Seite gegenüber, von Deutschland ganz zu schweigen. Die Londoner Konferenz hat k e i n e H a r m o n i e, son dern ci n e D i s s o n a n z ausgelöst. Das ist ein vollkommen logischer Schluß, wenn man sich den durchaus unehrlichen Wcscnszug dieser Konferenz vor Augen hält. Die spälcre omriuoc Geschichtsschreibung wird nickt umhin können, die grundlos unehrliche Tendenz dieser Londoner Konferenz auf das schärfste zu brandmarken. Die Konferenz trat mit vielem phrasenhaften Geplänkel zusammen, um einen skandalösen Völkerrechtsbruch wieder gutzumachen, in Welt- »rdnung und Wcltgcwissen einzuordnen, sie endete mit eine, Legalisierung dieses Völkerrechtsbruches, mit einem Tanz un sas goldene Kalb, das da heißt: Gewalt geht vor Recht. Das ist das klare, nicht wegzuleugnende Ergebnis der Lon doner Konferenz. Und als bitterer Bodensatz dieses Ergeb nisses zeigt sich nun dec Streit ober besser gesagt der Neid der beiden Hauptkompareuten um den fettesten Bis sen. Realpolitisch ausgedrückt: die Verschärfung und Vertiefung des englisch-französischen Gegensatzes. Deutschland, der durchaus leidende Teil bei diesem „Geschäft", steht nach diesen Ergebnissen der Londoner Konferenz vor einer durchaus neuen Entwicklung der Dinge, ganz gleichgültig, welchen einzelnen Gang die Durchführung des Dawes-Gutachtens nehmen wird. Der in London ein gut Stück weiter getriebene englisch-französische Gegensatz drängt mit Riesenschritten zur Katastrophe. Das ist der sich anbahnende zweite Akt des großen Welten dramas von 1914. Und bei diesem zweiten Akt wird Deutschland, falls es durch eigene Kraft seine inneren fatalen Nachkriegswehen zu meistern imstande ist, eine entscheidende, ausschlaggebende Rolle spielen müssen. " tt—r. Der öeuisch-pslmschs Vertrag An Weichsel und Warthe sitzen die Polen, und ihr ganzes Streben ist darauf gerichtet, sich auch den Freistaat Danzig einzuverlciben. Dies letzte, noch nicht erreichte Ziel läßt die Negierung in Warschau nicht aus den Augen, und das läßt erkennen, wie richtig Bismarck im Hinblick auf die große euro päische Politik die Sachlage beurteilte, als er den am 23. Sep tember 1894 in Varzin versammelten Westpreußen erklärte: „Dis russische Herrschaft, die russische Nachbarschaft war zwar oft unbequem und bedenklich, aber doch nicht in dem Maße, wie es eine polnische sein würde." Jetzt ist uns die pol nische Nachbarschaft auf den Hals gerückt. Die Rechtsbrüche und Vergewaltigungen deutscher Staats angehöriger und Optanten überstiegen die schlimmsten Be fürchtungen und nötigten zum Abschluß eines Vertrages, nachdem einZustandderGesetzlosigkeit einaetreten war. In Wien konnte ein endgültiges Abrommen über deir Wechsel der Staatsangehörigkeit und über die Option getroffen werden, nachdem schon im Juli die Regelung der strittigen Punkte durch den Schiedsspruch des Präsidenten des oberschlesischen Schiedsgerichts erfolgt war. Früher wurde der von 1908 bis 1920 im polnischen Gebiet beheimatete Deutsche vogelfrei, sobald ihn: ein Wohnsitz außerhalb Polens nachgewiesen wurde. Die Warschauer Regierung wollte die im internationalen Recht anerkannte Eigenschaft des Sujet mixte nicht gelten lassen und vertrieb unbarmher zig jeden Deutschen dieser Klasse. Verschleude rung deutschen Grundeigentums, Konfiskation, Dermögens- verluste aller Art waren die Folge dieser räuberischen Praxis. Durch eine Reihe Bestimmungen ist nunmehr das zeitweilige Verlassen des polnischen Wohnsitzes und ein Aufenthaltsort in Deutschland, z. B. wegen Schulbesuchs, Studierens, beruf licher Ausbildung u. dg!., nicht mehr mit dem Verlust der polnischen Staatszugehörigkeit verbunden. Auch ist Vorsorge getroffen, daß in Polen gebürtige, inzwischen ausgewanderts Personen noch bis zum 20. Februar 192ö Anspruch ans diese Zugehörigkeit haben, wenn sie in Polen über städtischen und ländlichen Grundbesitz, sofern letzterer zehn Jahre lang von ihrer Familie bewohnt ist, verfügen. Es wird sich bald herausstellen, ob die polnische Iust 1 z und Verwaltung diese Zugeständnisse nicht in ihr Gegenteil verkehren und sie nur ein papierenes Dasein führen. Haben die Polen doch bei den Echiedsgerichtsver- handlunaen durchgesetzt, daß gültig optiert habende Deutsche in gewissen Fristen von ihren» Grundbesitz vertrieben wsroen dürfen, und da die Ausweisungsbehörden mit den für die Entscheidung hierüber zuständigen Behörden identisch sind, kann man sich vorstellen, wie der Bescheid ausfallen wird. Deutschland erhält -war nach dem Abkonimen das Netorsions- recht gegen die polnischen Optanten. Aber das will materiell nicht viel besagen; denn der polnische Grundbesitz am deut schen Boden ist verhältnismäßig gering, und die Ausweisung würde voraussichtlick nur die volnlscben Landarbeiter. ein für die Bergung der Ernte nützliches Elemeri. lUressen und kleine Handwerker. Wichtiger ist es für die deutschen Behörden, eine Handhabe gegen die polnischen Propaoandisten zu er halten, die im Sinne der Expansion tätig si'd. Ob das Erreichte wirklich das Erreichbare darstellt, steht dahin. Wer die Psyche des urwüchsigen östlichen Nachbars , kennt, wird nicht im Zweifel sein, daß der Vertrag vermöge U der nationalen Einstellung der Polen Konfltkstoffe i n Mengen birgt. L. I>. Englands Furcht vor einem deuisch-franzöfischsn Handelsvertrag. Der Rheinlandkorresponbrnt der „Times" lenkt die öffentliche Aufmerksamkeit in England auf die Gefahr einer deutsch-französischen Interessengemeinschaft auf industriellem Gebiet und weist auf di: Ausnutzung der Micumverträgs für Handelsspionago für Frankreich hin. Darauf hin erhielten die Franzosen die vollständigen Informationen über die Ruhrindustrie. Fransrsich und die deutsche Kriegsschulde krä ttng. Das französische Ministerium des Aeußsrcn gibt bekannt, daß es noch keine offizielle Mitteilung von der öffentlichen Erklärung erhalten habe, die der deutsche Reichskanzler über die Verantwortlichkeit am Kriege abgegeben hat. Die fran zösische Negierung kündigt bei offizieller Bekanntgabe der deutschen Erklärung sofort eine amtliche Ant w or t a n Berlin an. In einer halboffiziösen amtlichen Pariser Mit teilung operiert man mit dem „Angriff Deutschlands" auf Belgien. Die Sprache der französischen Presse ist nickt nur ablehnend, sondern auch angrcisend. „Matin" schreibt: „Selbst nach alledeni, was sich ereignet habe, bestehe zwischen Deutschen und Franzosen die Möglichkeit der Verständigung, aber nur unter der Bedingung, daß man von Tat- fachen und vom Morgen, nicht aber von Ge fühlen, von Geschichte und vom Gestern rede." Immerhin rechnet man in politischen Kreisen mit einem ernsten diplomatischen Konflikt. In diesem Zuge ist bezeichnend eine Aeußerung des früheren französischen Ministerpräsidenten ' Millerand über das Sicherheitsproülem. Er sagt im „Scho de Paris": „In Wirklichkeit hat die An wesenheit der Franzosen im Ruhrgebiet sehr merklich den französischen Sicherheitskoeffizkenten vermehrt, wie der Rück- zug aus dem Ruhrgebiet ihn vermindern würde. Das ist unbestreitbar, und darum ist die Näumnuoririst auf ein Jahr festgesetzt worden. Er, Millerand, sei der erste gewesen, der im Frbruar 1920 den französischen Etandpunl! formuliert habe, daß die Räumnngsfristeu noch nicht zu laufen begonnen hätten. Alle späteren französischen Aegiersngru hätten diesen Standpunkt geteilt. Auch Herriot hätte auf der Sevals- tribune kürzlich diesen Standpunkt zu feinem eigene» gemacht." Or. üiNLnkartifcher Botschafter? Die Meldungen, wonach der Botschafter in London, Or. Sthamer, demnächst von diesem Amte zurücktreten sollte, sind nach Mitteilung von zuständiger s^ite unzntref. send. Man erNäet, daß im Gegenteil di: Stellung des Bot schafters im Verlaufe der Londoner Konferenz sich gefestigt Habs und die Hoffnungen der zahlreiche» Bewerber nm Lieft» Posten dürsten sich vorläufig nicht erfüllen, Was die Wieder besetzung des Botschafters in Washington anbetrifft, so wird der Botschafter Wiedscld bekanntlich Ende Septem ber nach Deutschland zurück'ehrsn. lieber seine Nachfolger schaft w'.b zurzeit von der Rcichsrsgleruna noch verhaut,>li, und zwar in erster Linie mit dem früheren Reichs kanzler vr. Cuno. Diese Bcchaicdlongcu dürsten sicher zum Ziele führen. Ltm den ^Bürgerblock". Die Verhandlungen zwischen den Parteien und der Neichsregierung über die Beteiligung der Deutsch- nationaIen an der Negierung sind vorläufig bis zum Wiederzusammentritt des Reichstages vertagt worden. Der Reickstaa wird infolge der sostaldemokratisclien Obstruktion