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Der Musikkritiker H. Laroche hatte Tschaikowski schon in dessen Petersburger Zeit eine große Zu kunft vorausgesagt: „Ich betrachte Sie als das größte musikali sche Talent des gegen wärtigen Rußlands. Ihre eigentlichen Schöpfungen werden vielleicht erst in fünf Jahren beginnen. Diese reifen und klassischen Schöpfungen aber werden alles übertref fen, das wir nach Glinka gehabt haben." Strawinsky nannte ihn - nicht allein nur des halb - den „von uns allen am meisten russi schen“ Komponisten. ten ihn für eine Beamtenlaufbahn vorgesehen. Doch als 22jähriger begann er ein Studium an dem von Anton Rubinstein gegründeten Konservatorium in St. Petersburg. Er aber wurde schon bald, selbst noch ohne eigentlichen Abschluß, Theorielehrer am neuen Moskauer Konservatorium, 1866 gerufen von Nikolai Ru binstein, dem Bruder des Petersburgers. Wie einige andere russische Komponisten auch, sah Tschaikowski in der russischen Volksmusik ei ne wichtige Inspirationsquelle. Begierig griff er die kompositorischen Versuche von Michail Glinka (1804 - 1857) auf, das nationale Idiom in der Musik stärker zu beachten. Glinkas Oper „Iwan Sussanin“ (1836) hatte den eigentlichen Anstoß gegeben und die Richtung aufgezeigt, die alle Nachfolgenden einschlagen sollten. Allerdings waren viele Komponisten, wie Mili A. Balakirew (1836 - 1910), der Meinung, daß eine musik theoretische Vorbildung wenig nützlich sei und man am besten aus den Partituren großer Komponisten lernen solle. Doch ganz im Gegensatz zu all den Komponisten, die sich selbst als die eigentlichen Erneuerer einer national-rus sischen Musik ansahen - die „Novatoren“ des Petersburger Kreises (Balakirew, Mussorgski, Cui, Rimski-Korsakow und Borodin), später spöttisch „Das mächtige Häuflein“ genannt -, hatte Tschaikowski eine gründliche Ausbildung durch laufen. Er kannte sein Handwerkszeug wie kaum jemand und wußte, damit umzugehen. So hatte er die akademische Ausbildung, also die Kenntnis der europäischen Musikgeschichte und die Beherrschung aller ihrer Formen und Verfahren, als notwendige Voraussetzung zur Entwicklung einer wirklich anspruchsvollen nationalen Kunst musik begriffen. Als Komponist machte Tschaikowski es sich selbst recht schwer, dies sowohl aus charakterlichen Gründen als auch aus akademisch erlernter Selbstdisziplin. Schüchtern, menschenscheu, un ter seiner homosexuellen Veranlagung leidend,