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senkavalier" im Mai 1911 unter dem Eindruck des Todes Gustav Mahlers in seinem Schreibkalender festhielt: Gustav Mahler nach schwerer Krankheit am 19. Mai verschieden. Der Tod dieses hoch strebenden, idealen, energischen Künstlers ein schwerer Verlust. Die ergreifenden Me moiren Wagners mit Rührung gelesen. Lectüre deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation Leop. Ranke: durch sie wird mir hell bestätigt, daß alle dort die Cultur för dernden Elemente seit Jahrhunderten nicht mehr lebenskräftig, wie alle großen politi schen u. religiösen Bewegungen nur eine Zeitlang wirklich befruchtend wirken können. Der Jude Mahler konnte im Christentum noch Erhebung gewinnen. Der Held Rieh. Wag ner ist als Greis, durch den Einfluß Schopen hauers wieder zu ihm herabgestiegen. Mir ist es absolut deutlich, daß die deutsche Nation nur durch die Befreiung vom Christen tum neue Tatkraft gewinnen kann. Sind wir wirklich noch weiter als zur Zeit der politi schen Union Karls V. u. des Papstes? Wil helm II. u. Pius X.? Ich will meine Alpensinfonie: den Antichrist nennen, als da ist: sittliche Reinigung aus eigener Kraft, Befreiung durch die Arbeit, An betung der ewigen herrlichen Natur. Nietzsches späte Schrift „Der Antichrist", entstanden im September 1 888 in Turin, war im Jahr der„Guntram"-Uraufführung (1 894) erstmals im Druck erschienen. Im Vorwort hatte der Autor des „Zarathustra" von seinen Zeitgenossen gefordert: Man muß rechtschaffen sein in geistigen Din gen bis zur Härte .. Man muß geübt sein, auf Bergen zu leben - das erbärmliche Zeit geschwätz von Politik und Volker-Selbstsucht unter sich zu sehn. Man muß gleichgültig ge worden sein, man muß nie fragen, ob die Wahr heit nützt, ob sie einem Verhängnis wird . . . Eine Vorliebe der Stärke für Fragen, zu denen niemand heute den Mut hat; der Mut zum Ver botenen; die Vorherbestimmung zum Labyrinth. Eine Erfahrung aus sieben Einsamkeiten. Neue Ohren für neue Musik. Neue Augen für das Fernste. Ein neues Gewissen für bisher stumm gebliebene Wahrheiten. Und der Wille zur Ökonomie großen Stils: seine Kraft, seine Begeisterung beisammenbehalten ... Die Ehr furcht vor sich; die Liebe zu sich; die unbeding te Freiheit gegen sich . . . Strauss'Tagebucheintrag von 1911 wirkt wie ein verspäteter Reflex von Nietzsches Vorwort; doch hatte er schon früh den Plan gefaßt, ein heidnisches Natur-Poem im Anschluß an den "Antichrist" zu kompo nieren: Bereits im Jahre 1902 arbeitete Strauss an einem umfangreichen viersätzigen Werk, das Nietzsches Kunst, „auf Bergen zu leben«, verherrlichte, und das den Titel trug: "Der Antichrist, eine Alpensinfonie". Der erste der vier Sätze gibt die Stationenfolge einer Bergtour wieder und entspricht damit rein äußer lich dem Werk, wie wir es heute kennen: „Nacht: Sonnenaufgang / Aufstieg: Wald (Jagd) / Wasserfall (Alpenfee) / blumige Wiesen (Hirte) / Gletscher / Gewitter / Abstieg und Ruhe". Doch wird in dieser frühen Skizze das tönende Naturerlebnis überlagert von der Kurve eines Künstler psychogramms: „Nach dem Sonnenauf gang Contrast des eigenen schmerz zerrissenen Innern doppelt stark / Wärmegefühl Kindheit: religiöse Gefüh le des kindlichen Gemüthes gegenüber der gewaltigen Natur / Ohnmacht, Trost: beginnendes selbständiges Denken und erste (künstlerische) Versuche". Im zwei ten Satz huldigt der angehende Religions verächter „Ländlichen Freuden: Tanz, Volksfest und Prozession", im dritten Satz ist er von „Träumen und Gespenstern (nach Goya)" umgeben, um schließlich im Finale die ersehnte „Befreiung durch die Arbeit: das künstlerische Schaffen" zu erlangen. In einer späteren Skizze wird die „Befreiung in der Natur" gewährt em Gedanke, den Strauss in die einsät- zige Fassung des Werks übernimmt, die er im Frühjahr 191 1 (nach Wegfall der Sätze II bis IV und Ausschaltung der Schaffensthematik) skizziert. Der Titel "An- Strauss arbeitete bereits 1902 an einem umfangrei chen Werk als Reflektion auf Nietzsches "Antichrist" ©