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KONGRESS-SAAL DEUTSCHES HYGIENE-MUSEUM ZUR EINFÜHRUNG Sonnabend, 10. November 1962, 19.30 Uhr Sonntag, 11. November 1962, 19.30 Uhr Im Rahmen der Sozialistischen Musikfesttage 3. ZYKLUSKONZERT RUSSISCHE UND SOWJETISCHE MEISTER Dirigent Prof. Heinz Bongartz Solist Prof. Gustav Schmahl, Berlin Peter Tschaikowski 1840—1893 Serenade für Streicher op. 48 Andante non troppo - Allegro moderato Moderato, Tempo di Valse Larghetto elegiaco Andante - Allegro con spirito Aram Chatschaturjan geb. 19.03 Konzert für Violine und Orchester Allegro con fermezza Andante sostenuto Allegro vivace PAUSE Nikolai Mjaskowski 1881—1950 27. Sinfonie Op. 85 (Erstaufführung) Adagio - Allegro animato Adagio Presto ma non troppo - Marciale Peter Iljitsch Tschaikowski hat nicht nur sechs Sinfonien, eine Reihe von sinfonischen Dichtungen, Konzerte für Klavier, für Violine, für Violoncello geschrieben, Werke, die in den Konzertsälen der ganzen Welt heimisch sind, auch seinen Ballettsuiten begegnet man immer wieder, und die Kenner wissen es und wissen es zu schätzen, daß der große russische Meister mit der Serenade für Streichorchester, op. 48, ein ganz köstliches Werk geschaffen hat. Sie ist 1880 entstanden, zwischen der vierten und der fünften Sinfonie, und trägt in ihrer Viersätzigkeit ebenfalls Sinfoniecharakter. Aber sie ist leichter im Gewicht, sie hat aus gesprochenen Divertimentocharakter, sie ist ein Stück bester, hochwertiger „Unterhaltungs musik“ und darin vorbildlich auch für unsere Zeit. Der Komponist selbst hatte eine sehr hohe Meinung von dem Werk. Am 8. November 1880 schrieb er an seinen Verleger, er habe „unerwartet“ eine Streicherserenade komponiert. „Sei es, weil dieses mein jüngstes Kind ist, sei es, weil sie in Wahrheit nicht schlecht ist, ich bin jedenfalls in diese Serenade schrecklich verliebt und kann es kaum erwarten, daß sie der Welt vorgestellt wird.“ Die Uraufführung des Werkes fand dann am 30. Oktober des nächsten Jahres statt, und zwar durch die Petersburger Russische Musikgesellschaft unter Leitung von Eduard Naprawnik, dem führenden Kopf des Petersburger Musiklebens. Der Dirigent berichtet, daß die Sere nade großen Erfolg gehabt habe, der zweite Satz, der Walzer, mußte sogar wiederholt wer den. Auch in Moskau wurde sie mit Beifall aufgenommen, die Kritik erklärte sie für eines der besten Werke Tschaikowskis. Mit dem ersten Satz wollte der Komponist, wie er sagte, „der Verehrung für Mozart einen Tribut entrichten“, der Satz sei „eine bewußte Nachahmung seiner Manier“. Tschaikowski verehrte den deutschen Meister über alles. „Mozart war ein herrlicher, unendlich guter und engelhafter Mensch — das Ideal eines Künstlers. Er musizierte so, wie die Nachtigallen singen.“ So kam es auch zu der Orchestersuite „Mozartiana“, der Bearbeitung von drei Mozartschen Klavierstücken und von Liszts Transkription des „Ave verum“. Tschaikowski wünschte damit, wie er erklärte, „einen neuen Anstoß zur Aufführung dieser kleinen Meister werke zu geben, die trotz ihrer gedrängten Form ganz unvergleichliche Schönheiten bergen“. Was nun den ersten Satz der Streicherserenade, ein „Stück in Sonatinenform“ angeht, so ist seine Musik sicherlich nicht unbeeinflußt vom Geist Mozarts, aber sie ist doch zugleich auch echter Tschaikowski. Die langsame Einleitung könnte man übrigens ebensogut von Händel ableiten - wir wissen aus den Forschungen des sowjetischen Musikologen Roman I. Gruber, daß Tschaikowski dem Schaffen Händels sehr nahestand. Mozartisch könnte man das zweite Thema nennen, das mit einer ununterbrochenen Sechszehntelbewegung sich stark von dem ersten, mehr im romantischen Geist erfundenen abhebt. Der zweite Satz ist einer jener bezaubernden Tschaikowskischen Walzer, dessen Thema bei aller schwebenden Leichtigkeit durch einen innigen Ton ausgezeichnet ist. Im Verlauf des Satzes wird es vom Komponisten gar anmutig kontrapunktiert. Der dritte Satz ist eine schwermütige Elegie, die nachdenklich eingeleitet wird und dann die ersten Violinen einen ausdrucksvollen D-Dur- Gesang anstimmen läßt. Im Mittelteil gesellt sich das Violoncello dazu, um nach Liebesfreud auch Liebesleid zu Wort kommen zu lassen. Wie in seinen Sinfonien gibt Tschaikowski im Finale frohen Gedanken Raum. Dem Sonaten- allegro geht auch hier eine langsame Einleitung voraus, dem Hauptthema liegt dann — auch das ist echtester Tschaikowski - eine russische Volkstanzweise zugrunde: „Unterm grünen Apfelbaum.“ Das Gesangsthema wird von den Celli gebracht, begleitet vom Pizzicato der Geigen, die dann das Thema selbst übernehmen. Auch hier also wieder die Tschaikowskische Grundidee: Freue dich über das Volk, freue dich mit dem Volk! Auch hier also wieder die überzeugende Widerlegung der These, Tschaikowski sei in seinem Schaffen westlich orien tiert gewesen und habe den Bestrebungen des „Mächtigen Häufleins“ fremd gegenüber gestanden. In der Coda kehrt die pathetische Einleitung des ersten Satzes wieder, wodurch das ganze Werk formal sehr geschlossen wirkt. Um aber den frohen, optimistischen Charakter des Finales und damit des ganzen Werkes zu bewahren, läßt Tschaikowski fast unvermutet die Einleitungsmusik in das Hauptthema des Finales übergehen und sichert damit dem Werk einen festlichen, lebensfrohen Ausklang. Aram Iljitsch Chatschaturjan ist neben Schostakowitsch der bekannteste sowjetische Kom ponist. In allen Konzertsälen der Welt sind seine Werke heimisch. Er stammt - der Name, die Nachsilbe „jan“ verrät es - aus Armenien. Sein Vater war aus seiner Bergheimat nach der Hauptstadt Grusiniens, Tbilissi, gekommen, wo er als Buchbinder tätig war. Hier wurde am 6. Januar 1903 Aram Chatschaturjan geboren. Er hatte zunächst keine Gelegenheit, seine musikalische Begabung ausbilden zu lassen. Das wurde anders, als in der jungen Sowjetunion allen Talenten aus allen Republiken die Möglichkeit der Entwicklung geboten wurde. Chatschaturjan hat später einmal in einem Interview bekannt: „Manchmal denke ich darüber nach, wie seltsam ist doch unsere Zeit, unser Land, und wie sehr haben sich seine Söhne gewandelt. — Mit 19 Jahren konnte ich nicht einmal Noten lesen . . .“ Nachdem er in Moskau bereits drei Semester Mathematik und Physik studiert hatte, bot sich ihm 1922 die Gelegenheit, in die Violoncelloklasse der berühmten Moskauer Musikschule Gnessin einzutreten und dort auch die Kompositionsklasse Michail Gnessins zu besuchen. 1927 setzte er seine musikalischen Studien am Moskauer Konservatorium fort. Sein Lehrer wurde der hochangesehene Komponist Nikolai Mjaskowski, bei dem er, zuerst als Student und dann als Aspirant, das kompositorische Handwerk erlernte. Mit Abschluß seiner Studien erhielt er die goldene Medaille des Konservatoriums. Sein Name wurde, einer hundertjährigen Tradition entsprechend, auf einer Ehrentafel im Konservatorium ein gemeißelt, wie vorher die Namen Tschaikowskis, Rachmaninows oder Skrjabins. Nachdem Chatschaturjan dann einige Zeit ganz seinem Schaffen gelebt hatte, wurde er 1951 als Professor für Komposition an die Institute berufen, an denen er selbst ausgebildet worden war: an das Moskauer Konservatorium und an das Gnessin-Institut. Daneben reizte es ihn, sowohl in der UdSSR wie im Ausland seine eigenen Werke selbst zu dirigieren. In den letzten Jahren ist er in Frankreich, England, Österreich, Belgien, Finnland, Bulgarien, der Tschechoslowakei und Südamerika (Kuba und Mexiko), und nun auch in der Deutschen Demokratischen Republik, als Dirigent hervorgetreten. Er knüpfte damit an eine Tradition an — viele der russischen Klassiker liebten es, ihre Werke selbst zu interpretieren und damit gültige Maßstäbe zu schaffen. Auch als Sekretär des Komponistenverbandes der Sowjetunion erwarb sich Chatschaturjan Verdienste. Eine Zeitlang war er daneben Abgeordneter im Obersten Sowjet Armeniens. Er trägt die Titel „Verdienter Künstler“ und wurde viermal mit dem Stalinpreis und einmal, für „Spartakus“, mit dem Leninpreis ausgezeichnet. Chatschaturjan hat bis auf Oper und Oratorium alle Zweige der Musik gepflegt. Am bekann testen geworden sind seine Konzerte, das für Klavier, das für Violine und das für Violon cello. Für Orchester schrieb er weiter zwei Sinfonien und das Sinfonische Poem für Orgel, Blechbläser und großes Orchester. Von seinen Kammermusikwerken ist vor allem sein Trio für Violine, Klarinette und Klavier bekannt geworden, von seinen Klavierstücken erfreuen sich die Tokkata, das Poem und die Sonatine größter Beliebtheit bei den Pianisten wie beim Publikum. Viel genannt wird der Name Chatschaturjan in Verbindung mit seinen Paletten, „Gajaneh“ und „Spartakus“, die in der Sowjetunion regelmäßig aufgeführt und vielfach auch im Aus land, mindestens durch Konzertsuiten, bekannt wurden. In diesem Zusammenhang seien auch die zahlreichen Schauspiel- und Filmmusiken genannt, die zeigen, daß Chatschaturjan ein sehr enges Verhältnis zur dramatischen Kunst hat. Was macht nun seine Musik so eigenartig und unverwechselbar? Es ist der Einfluß der Volksmusik, der Musik Kaukasiens. Die Folklore seiner Heimat ist ihm stets Anregung für seine eigene schöpferische Phantasie. In der Musik Chatschaturjans spiegelt sich seine Heimat wider: Armenien mit seinen gesegneten Landstrichen, in denen, von einer südlichen Sonne gespeist, Baumwolle, Tee und Trauben reifen — Trauben, die zu schweren, süßen Weinen gekeltert werden. Chatschaturjan betrachtet es als eine vordringliche Aufgabe, „sein Volk musikalisch weiter zubilden“. Er will mit seiner musikalischen Aussage verstanden werden, jedoch ohne dabei in seiner Musik einer billigen Popularitätssucht zu huldigen. Das gilt auch und in hohem Maße von seinem Violinkonzert aus dem Jahre 1940, das David Oistrach gewidmet ist und von diesem berühmten sowjetischen Geiger unzählige Male auf geführt und auch auf die Schallplatte gespielt wurde. Beide Themen des ersten Satzes, das erste eine granziöse Tanz weise, das zweite eine betörend liedhafte Melodie (man sieht, daß der Satz ganz in der klassischen Sonatenform gehalten ist), sind nationalgeprägt. Das gilt auch vom zweiten Satz,