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STEINSAAL DEUTSCHES HYGIENE-MUSEUM ZUR EINFÜHRUNG Mittwoch, 7. November 1962, 19.30 Uhr 2. KAMMERMUSIKABEND der Kammermusikvereinigung der Dresdner Philharmonie Im Rahmen der Dresdner Musiktage Ausführendc Günter Sicring Violine Günther Schubert Violine Herbert Schneider Viola Erhard Hoppe Violoncello Heinz Schmidt Kontrabaß Johannes Walter Flöte Werner Metzner Klarinette Helmut Radatz Fagott Gerhard Berge Klavier Heinz Bongartz geb. 1894 Streichquartett, op. 16 Ruhig, doch rhythmisch Sehr ruhig Frisch und sehr rhythmisch Schnell Hanns Eisler 1898-1962 Suite für Septett Nr. 1, op. 92 a (Variationen über amerikanische Kindcrüeder) Allegretto - Allegro assai Allegretto moderato - Frisch - Presto Allegretto - Andante Andante Sergej Prokofjew 1891-1953 7. Sonate für Klavier, op. 83 Allegro inquieto Andante calorosa Precipitato Pause Franz Schubert 1797-1828 Quintett A-Dur, op. 114 (Forcllenquintctt) Allegro vivace Andante Scherzo (Presto) Thema mit Variationen Finale (Allegro giusto) Heinz Bongartz, aus Krefeld stammend, studierte in seiner Vaterstadt sowie in Köln bei Steinbach, Ncitzel und Elly Ney. Seit 1947 ist er Chefdirigent der Dresdner Philharmonie. Es ist sein Verdienst, diesen Klangkörper nach dem Zusammenbruch des Faschismus zu neuen künstlerischen Höhen geführt zu haben. Prof. Bongartz trat auch mehrfach als feinsinniger Komponist spätromantisch-impressionistischer Haltung hervor. Sein Streichquartett, op. 16, vollendete er am 7. September 1932 in Bad Nauheim. Es handelt sich wie bei den meisten seiner Schöpfungen um ein formklares, übersichtliches Werk mit einer leichtverständ lichen musikalischen Aussage, die in ein gewinnendes klangliches Gewand gekleidet ist. Eine duftige, impressionistische Klanglichkeit, an Debussy erinnernd, betonte Chromatik und aparte Quart- und Quintreize in der Melodik kennzeichnen den in dreiteiliger ABA-Form angelegten ersten Satz. Über durchgehaltener Pizzicatobeglcitung des Violoncellos entfaltet sich in den übri gen Instrumenten eine Melodie von prägnanter Rhythmik. Der ruhig strömende A-Tcil erscheint am Schluß des Satzes, etwas ausgesponnen, wieder. Der Mittelteil B wird von dem Bewegungs impuls des schnell und leicht dahineilenden Achtclthemas bestimmt. Ein lyrischer Seitengedanke entfaltet sich zu melodischer Bedeutsamkeit. Die Wärme der Empfindung, die aus dem ersten Satz zu uns spricht, ist auch für den zweiten, dichter und kontrapunktisch gearbeiteten Satz charakteristisch. Die langsame Einleitung zielt auf klangsinnlich-akkordischc Wirkungen bei spätromantischer Chromatik. Das sehr ausdrucksvolle musikalische Geschehen des anschließen den bewegteren Teiles prägen ein kapriziöses Hauptthema (in den beiden Violinen und der Viola) und ein melodischer Gedanke aus der Einleitung, in deren Stimmung der Satz auch schließt. Fast Regersche Chromatik begegnet im frisch zupackenden, burlesken Scherzo mit sei nem rhythmisch profilierten Thema in der ersten Violine über Pizzicatoakkorden der anderen Streicher. Später, wieder in der ersten Violine, folgt ein expressives zweites Thema. In die spielerische Durchführung dieses Materials ist ein kontrastierender, melodiöser Trioteil einge schaltet. Nach starken Ausdrucksballungen tritt wieder die Anfangsstimmung ein. Eine wir kungsvolle Pointe krönt den rasant-drängenden Satzschluß. Der vierte Satz bringt den Höhe punkt des musikalischen Geschehens. Die chromatisch-expressive, sprunghaft geführte, prägnante Thematik löst dramatische Auseinandersetzungen und Steigerungen aus. Nach einem Höhe punkt erfolgt die Beruhigung und der Beginn eines schnellen Fugatos (das Thema erklingt in der Bratsche und wandert dann durch alle Stimmen). Nach einer hymnischen Ausweitung kommt es zu einem jähen, wirbelnd-effektvollen Abschluß der Komposition. früh verstorbene fort ¬ schrittliche Komponist Hanns Eisler, einer der Prominentesten der im Deutschland unseres Zeitalters musikalisch-schöpferisch Schaffenden, wirkte an führender Stelle beim Neu aufbau des Musiklebens der Deutschen Demokratischen Republik, deren Nationalhymne er gemeinsam mit dem Dichter Johannes R. Becher schrieb. Der einstige Schönbergschüler hatte schon nach dem ersten Weltkrieg durch zündende Arbeiterlieder, häufig auf Texte seines Freundes und engsten künstlerischen Partners Bertolt Brecht, Aufsehen erregt und der gegen Kapitalismus, Faschismus und drohenden Krieg kämpfenden Arbeiterklasse ideologisch-künst lerische Hilfe und Unterstützung bei ihrer gerechten Sache gegeben. 1933 emigrierte er vor dem Hitlcrfaschismus nach den USA, wo er u. a. sein die kapitalistisch amerikanische Musik kultur“ entlarvendes Buch „Komposition für den Film“ schrieb. 1948 kehrte er nach Berlin zurück, 1950 wurde er Mitglied der Deutschen Akademie der Künste und Nationalpreisträger. Sein künstlerisches Erbe ist von schier unübersehbarer Fülle und Vielseitigkeit, es umfaßt die verschiedensten musikalischen Gattungen, Lieder, Songs, Kantaten, Bühnen- und Filmmusiken, Sinfonien, Orchestersuiten und nicht zuletzt viel Kammermusik. Die Prinzipien strenger Partei lichkeit, der Humanität und des Realismus haben es geprägt. Aus Hanns Eislers USA-Periode stammt u. a. neben der bedeutenden Kammersinfonie die heute erklingende Suite für Septett Nr. 1, op. 92a, mit dem Untertitel „Variationen über amerikanische Kinder lieder“. Das Werk, das für die Besetzung große und kleine Flöte, B-KIarinette, Fagott und Streichquartett geschrieben ist, geht auf eine Filmmusik zurück. Eisler war im Frühjahr 1940 von der „New School for Social Research“ ein musikalischer Forschungsauftrag erteilt worden, der zu verschiedenen Versuchen der Weiterentwicklung des Filmmusikgenres, dem er stets hohe Bedeutung beimaß, Anlaß war. Dazu gehörte auch die Musik zu dem experimentellen Doku mentarfilm „Kinderszenen“, in dem das Leben von Kindern im Zeltlager bei Spiel, Arbeit, Streit, Essen, Schlafen und bei der Beschäftigung mit Tieren dargestcllt wurde. Bei der Kon zeption der Filmmusik ging es dem Komponisten um eine neue Methode, nämlich der realisti schen Darstellung von Gefühlsregungen wie Ernst, Wut, Freude und Trauer aus der Warte des Kindes, nicht aus der Sicht des kindliches Spiel beobachtenden Erwachsenen. Was lag näher, als bei der musikalischen Gestaltung amerikanische Kinderlicdcr als thematisches Material zu verwenden. Diese auch verleihen der Suite ihren humorvollen, lustigen Charakter. Ein spritziges Allegretto bildet den ersten Satz, in dem das Fagott (später die Flöte) ein amerikanisches Kinderlied anstimmt. Der zweite Satz, der fröhliches kindliches Spiel, unbekümmertes lustiges Durcheinanderlärmen gleichsam „schildert“, mutet wie eine Sonatinenexposition an. Nachdenk lichkeit, wie sic etwa die Tätigkeit des Bastelns und Malens erfordert, deutet der dritte Satz, ein Fugato, an, dessen Thema noch im vierten Satz, der kindliches Mühen beim Schleppen schwerer Steine charakterisiert, wirksam bleibt. Ein frisches Kinderlied erklingt im nächsten, gefolgt von drei Variationen und einem kleinen Nachsatz. Der sechste Satz erzählt, wie die entsprechende Filmszene, vom Hundewaschen, ein weiteres Volksliedchen wird dazu angestimmt. Eine kribblige Sache ist das Füttern junger Mäuse, deren schrilles, ängstliches Quicken im siebenten Satz humorvoll cingefangen ist. Der nachfolgende Teil, ein Kanon, berichtet vom Ballspiel. Die Stimmung der fröhlichen Kindergesellschaft, die im Wägelchen durch eine schöne Landschaft rollt, ist schließlich im letzten Satz dieser launischen, durchsichtig angelegten Suite fcstgehalten, die Hanns Eisler, den Schöpfer des berühmten Solidaritätsliedes, des Ein heitsfrontliedes oder des Friedensliedes und zahlreicher anderer revolutionärer Kampfgesänge, die über den ganzen Erdball verbreitet sind und während der faschistischen Herrschaft man chem Partisanen und Gefangenen neuen Mut einflößten, einmal von einer ganz anderen Seite zeigt. Denn das Massenlied war, worauf schon hingewiesen wurde, nur eine Seite des Eisler- schcn Schaffens, das heute bereits spürbar bewußtseins- und stilbildcnd weiterwirkt, wie denn der Komponist, der auch mit geistvollen Schriften und Aussprüchen hervorgetreten ist, eine ganze Generation von Komponisten erzogen hat. Immer aber erfüllen seine Werke jene Forde rung, die er selbst an sie stellte als an eine Musik, „die dem Sozialismus nützt“, wie er sie seit seiner Jugend zu schreiben stets bemüht war.