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ZUR EINFÜHRUNG Mit seinen Serenaden und besonders mit den V ariätionen über ein Thema von Joseph Haydn in B-Dur op. 56 a schuf Johannes Brahms gleichsam Vorstudien für seine vier Sinfonien, deren erste er 1876 vollendete. Übte er sich in den Serenaden in der Be herrschung klassischer Formen im Sinne Haydns und Mozarts, so brachten ihm die Haydn-Variationen aus dem Jahre 1873 - unter dem Einflüsse der Beethovenschen Sinfonik - weitere Sicherheit in der thematisch-motivischen Arbeit. Brahmsens klassische Haltung hatte sich also um diese Zeit - das Deutsche Requiem und viele seiner meister lichen Liedschöpfungen waren schon entstanden — wesentlich gefestigt. Auch räumlich war er der Welt der Wiener Klassik nähergekommen, hatte er sich doch in der Donau metropole niedergelassen. Aber noch ein weiteres Kennzeichen der Brahmsschen Ton sprache soll hier vermerkt werden, weil es in den Haydn-Variationen bereits ausgeprägt ist: die Neigung und Fähigkeit des Komponisten zu barock-klassischer Form- und Stil synthese, seine Gabe, sinfonische Entwicklungen bei kontrapunktischer Anlage geradezu kammermusikalisch subtil zu gestalten. Das Thema, das den Haydn-Variationen zugrunde liegt und am Beginn des Werkes in seiner reizvollen Originalgestalt erklingt, entnahm Brahms dem zweiten Satz von Haydns Feldpartita B-Dur für zwei Oboen, zwei Hörner, drei Fagotte und Serpent: eine Andante-Melodie mit der Überschrift „Choräle St. Antoni“, die vermutlich von einem alten burgenländischen Wallfahrtslied stammt. Mit den Variationen über dieses Thema schuf Brahms eines der bedeutendsten Variationenwerke der deutschen Musikliteratur überhaupt, dessen Anregungen bis hin zu Reger und Hindemith spürbar bleiben. Das Werk wurde übrigens in zwei Fassungen geschrieben, für zwei Klaviere und für Orchester. In acht Variationen, die satztechnische Kabinettstücke sind, wird eine Fülle herrlichster Musik verströmt, deren phantasievoller Einfallsreichtum, Formvollendung und gedanklich-geistige Tiefe auch den Hörer fasziniert, der den Variationenzyklus nicht rationell aufnimmt, sondern die Ausdruckskraft dieser Musik gewissermaßen „unbelastet“ auf sich wirken läßt. Der Höhepunkt der Komposition ist das Andante-Finale, eine Chaconne, in der siebzehnmal ein aus dem Thema entwickelter Baßgang wiederholt wird, über dem sich neue Tonfiguren und Melodien erheben, bis das Hauptthema den fest lichen Ausklang herbeiführt. Clara Schumanns Worte über das Werk, die sie anläßlich einer Leipziger Aufführung Anfang 1874 dem Dirigenten Hermann Levi schrieb, sind symptomatisch für die Begeisterung, die diese Komposition auslösen kann, und seien darum hier wiedergegeben: „Die Variationen sind zu herrlich! Man weiß nicht, was man mehr bewundern soll, die Charakteristik einer jeden Variation, die prachtvolle Abwechs lung von Anmut, Kraft und Tiefe oder die wirkungsvolle Instrumentation — wie baut sich das auf, mit welcher Steigerung bis zum Schluß hin! Das ist Beethovenscher Geist von Anfang bis zu Ende.“ Brahms schrieb sein einziges, im Jahre 1878 komponiertes Violinkonzert D-Dur op. TI für seinen langjährigen Freund, den berühmten Geiger Joseph Joachim, der ihm auch bei der Ausarbeitung der Solostimme in violintechnischen Fragen ratend zur Seite stand (ohne daß Brahms allerdings auf alle Änderungsvorschläge Joachims eingegangen wäre). „Nun bin ich zufrieden, wenn Du ein Wort sagst und vielleicht einige hineinschreibst: schwer, unbequem, unmöglich usw.“, können wir in einem Brief vom August 1878 an Joachim lesen, den der Komponist ihm zusammen mit der zu begutachtenden Violinstimmc schickte. In seiner Antwort darauf bemerkte der Geiger, daß „das meiste . . . herauszu kriegen“ und ein Teil sogar „recht originell violinmäßig“ sei. Bereits am Neujahrstag des folgenden Jahres wurde das in einer glücklichen, fruchtbaren Schaffensperiode entstandene Werk (auch die 2. Sinfonie D-Dur und das 2. Klavierkonzert B-Dur stammen aus dieser Zeit und zeigen manche dem Violinkonzert verwandte Züge) mit Joachim als Solisten unter Brahmsens Leitung in Leipzig uraufgeführt. Das Konzert, das sich in bezug auf Aussage, Form und Anlage außerordentlich vom Typ des zeitgenössischen Virtuosen konzertes unterscheidet, war vom Komponisten zuerst viersätzig geplant worden. Da Brahms aber „über Adagio und Scherzo gestolpert ist“, komponierte er den Adagio-Satz neu und ließ die beiden ursprünglichen Mittelsätze wegfallen. Trotzdem ist die aus gesprochen sinfonische Anlage des Konzertes unverkennbar. Schon Clara Schumann äußerte nach dem Kennenlernen des ersten Satzes, „daß es ein Konzert ist, wo sich das Orchester mit dem Spieler ganz und gar verschmilzt“. Niemals ist die virtuose Violin- technik hier Selbstzweck, wie bei so vielen zeitgenössischen Solokonzerten, sondern in vertiefter, gehaltvoller Gestaltung stets als dienendes Glied in den sinfonischen Ablauf eingefügt, wobei (für Brahmsens Zeit ganz neue) große Aufgaben an den Solisten gestellt werden. In seiner größtenteils lyrisch heiteren, innig-warmen Grundstimmung, seiner klassisch ausgewogenen Form gehört das Brahmssche Violinkonzert zu den schönsten, vollendetsten und berühmtesten Werken dieser Gattung. Das weiche, in ruhigen D-Dur-Dreiklängen auf- und absteigende Hauptthema des groß angelegten ersten Satzes (Allegro non troppo) erklingt eingangs in Bratschen, Violoncelli, Fagotten und Hörnern und findet seine Weiterführung in einer sehnsüchtigen Oboen melodie. In der ausgedehnten sinfonischen Orchestereinleitung werden noch weitere Nebengedanken entwickelt. Darauf setzt nach einem rhythmisch scharf betonten, später vom Solisten erweiterten Seitenthema kadenzartig das Soloinstrument ein, in gleichsam improvisatorischen Umspielungen zum Hauptthema findend. Nachdem auch das eigent liche zweite, sehr kantable Thema von der Solovioline vorgetragen wurde, werden im spannungsvollen Durchführungsteil die verschiedenen Themen und Motive in mannig fachsten Ausdrucksschattierungen verarbeitet. Die an die Reprise anschließende Kadenz des Solisten hat Brahms nicht selbst ausgeschrieben. In den höchsten Lagen der Violine ertönt danach noch einmal friedvoll die Anfangsmelodie, dann beschließt eine kurze, kraftvolle Coda den Satz. Ein wunderschönes, echt „Brahmssches“ Adagio bildet den Mittelsatz des Werkes. Der poesievolle dreiteilige Satz wird von den Bläsern eingeleitet, wobei die Oboen, von den übrigen Holzbläsern und zwei Hörnern begleitet, das liebliche F-Dur-Hauptthema zum Vortrag bringen, das dann von der Solovioline auf gegriffen und variierend weiter gesponnen wird. Nach einem leidenschaftlichen, weitgehend vom Solisten getragenen fis-Moll-Mittelteil wird das Anfangsthema wieder aufgenommen; arabeskenhaft um spielen die Figuren des Soloinstruments den Oboengesang. Das abschließende feurige Allegro giocoso, in Rondoform aufgebaut, beginnt sogleich mit dem durch den Solisten erklingenden, ein wenig ungarisch gefärbten tänzerischen Hauptthema, das durchweg in Doppelgriffen erscheint. Von den Seitenthemen des Final satzes wird besonders ein energisch-markantes, aufsteigendes Oktaventhema der Violine bedeutsam, daneben eine zarte, lyrische G-Dur-Episode. In einer Stretta gipfelnd, die das Rondothema noch einmal in rhythmisch veränderter Form bringt, beendet der glanz voll virtuose, spritzige Finalsatz mit einer Fülle origineller Einfälle das Konzert. Erst im reifen Alter von 43 Jahren, 1876, vollendete Brahms seine l. Sinfonie c-Moll op. 68 und schuf bereits neun Jahre später seine vierte und letzte Sinfonie. Sein sinfoni sches Schaffen umspannt also zeitlich gerade ein Jahrzehnt. Aber welch eine Fülle herr lichster Musik, welch eine einzigartige Weite und Wärme musikalischen Ausdrucks verbirgt sich hinter dieser nüchternen Feststellung. Brahms fiel die Auseinandersetzung mit der großen zyklischen Form des 19. Jahrhunderts nicht leicht (allein sein schmerzvolles Ringen um die 1. Sinfonie bestätigt dies: lag der erste Satz bereits 1862 vor, so konnte doch das gesamte Werk erst vierzehn Jahre später vollendet werden). Mit seiner „Ersten“ lieferte der Komponist ein hervorragendes Beispiel schöpferischer Aneignung der sinfoni schen Tradition eines Beethoven (dessen „Fünfte“ sie an Tiefe des Ausdrucks und Größe der Problemstellung verwandt ist), Schubert und Schumann. Von dem berühmten Diri genten Hans von Bülow stammt das bekannte Bonmot, das Brahmsens „Erste“ Beethovens „Zehnte“ genannt werden könne. Damit ist die musikgeschichtliche Stellung dieser Sinfonie als bedeutendster sinfonischer Beitrag des 19. Jahrhunderts seit Beethoven klar umrissen. Und nichts anderes stellte auch der gefürchtete Wiener Kritiker Eduard Hanslick fest, als er nach der ersten Wiener Aufführung schrieb: „Mit den Worten, daß