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ZUR EINFÜHRUNG 1822 komponierte Franz Schubert (1797—1828) als 8. Sinfonie in der Reihe seiner 10 Sinfonien die in h-moll stehende. Seltsam ist, daß er dieses Werk, das er auf der Höhe seiner Meisterschaft, im Voll besitz seines überragenden Könnens niederschrieb, nicht fertig komponierte, sondern daß er nach dem zweiten Satze damit aufhörte. Sie heißt nun die „Un vollendete“ — und wenn irgendwo nur dieses Wort fällt, dann weiß jeder, daß damit dieses Werk Franz Schuberts gemeint ist. Sie ist freilich trotz ihres Un vollendetseins ein vollendetes Meisterwerk. Es gibt kaum einen Menschen, der sich ihrer tiefen Wirkung entziehen könnte. Um so rätselhafter ist, warum Schubert aufhörte, an dieser Sinfonie weiter zuarbeiten. Man kennt die wahren Gründe nicht, vermutet aber, daß Schubert, der Beethoven und dessen titanisches Schaffen über alles verehrte, der in der Beethovenschen Sinfonie unerreichbare Vor bilder sah, eines Tages die Einsicht hatte, daß er die Größe dieses Meisters nie erreichen könne und deshalb auf Vollendung eben seiner eigenen 8. Sin fonie verzichten müsse. Die Musikwissenschaft steht heute auf dem Standpunkt, daß Schubert in seinen sinfonischen Werken von einer verschwen derischen Fülle der Einfälle ist, daß aber seine Ein fälle überwiegend lyrisch und gefühlsbetont sind, daß er sich in ihnen schwelgerisch verlieren konnte (so daß Robert Schumann von „himmlischenLängen“ sprach), daß ihm die Beethovensche Gabe der Ge dankenschärfe und der Aussageknappheit mangelte. Weil seine Themen und Gedanken vorwiegend ly risch waren, fehlten ihnen die Kontraste, die erst das echte sinfonische Leben ergeben hätten. Vielleicht spürte Schubert diesen Mangel beim Vergleich mit dem angebeteten Beethoven wirklich selbst und unterließ deshalb die Vollendung seiner Achten. Nun'— wie dem auch sei — seine Unvollendete ist gerade seine berühmteste Sinfonie geworden. Wo soll man anfangen, die vielen Schönheiten aufzu zählen? Wie Perlen auf einem Faden reihen sich die Einfälle aneinander — und einer ist schöner als der andere. Im ersten Satz ist die vollendete Melodie der Violoncelli zu Hause, eine der schönsten Melodien überhaupt, die, nur aus 2 Motiven aufgebaut, ein so vollkommenes Maß zeigt, daß man sie eigentlich klassisch nennen müßte. Und vom gesamten zweiten Satz, dem langsamen Satz! der nunmehr diesen Torso von Sinfonie abschließt, kann man sagen, daß dies wohl wirklich Sphärenmusik sei. Wo hat man schon solche überirdischen Klänge gehört? Beinahe hätte die Welt von diesem Werke nichts er fahren. Schuberts Freund Anselm Hüttenbrenner hütete das Manuskript eifersüchtig und versteckte es vor der Öffentlichkeit. Erst 1865 wurde die Sin fonie uraufgeführt. Und seitdem ist sie_zum geisti gen Besitz aller Menschen geworden. Je mehr man sie hört, desto schöner erscheint sie. Sie müßte eigentlich die „Vollendete“ heißen. Beethovens zweite Sinfonie op. 36 in D-dur gehört zu den gradzahligen Sinfonien, die — eine nicht rest los klärbare Tatsache — in der Gunst des Publikums hinter seinen ungradzahligen zurückstehen. Es ist ein freudiges, lebenslustiges Werk, das seltsamer weise im Sommer 1802 niedergeschrieben ist, in dem Beethoven sein Heiligenstädter Testament verfaßt hat. Man ersieht an dieser Tatsache, welche Höhen und Tiefen der Mensch Beethoven in so kurzen Zeit spannen durchmessen hat. Beethoven bedient sich des von Haydn und Mozart entwickelten und ver- vollkommneten Sonatengerüstes. Er spricht in der zweiten Sinfonie dazu noch die Tonsprache dieser beiden Meister bei völliger Wahrung seines eigenen Gesichts. Eine große Einleitung geht dem ersten Satz voran, dessen erstes,frischesundsonnig-klares Thema von den Bratschen und Celli vorgetragen wird. Das zweite Thema, von Klarinetten und Fagotten ge blasen, ist im Charakter dem ersten sehr verwandt, wodurch dieser Satz eine auffällige Einheitlichkeit erfährt. In der Durchführung ist die Meisterschaft Beethovens schon offensichtlich. Das Larghetto ist eine der liebenswürdigsten Erfindungen des Kom ponisten, der sich seiner Meisterschaft bewußt ist. Das Scherzo (hier noch als ein beschleunigtesMenuett) aufgefaßt) zeigt viel Geist und spielerisch-witzige Lebendigkeit, die sich vor allem dann im Schlußsatz ausleben kann. Dieses gut gelaunte und ausgelassene Stück (in einer Art Rondoform mit Verquickung der Sonatenform geschrieben) sagt nichts vom Beethoven aus, der im selben Jahre, da er dieses lebensbejahende Werk geschaffen hatte, aus der Welt scheiden wollte. 1895 ist das geniale Werk „Till Eulenspiegels lustige Streiche“ von Richard Strauß geschrieben worden. Über ein halbes Jahrhundert ist dieses op. 28 schon alt und hat noch nichts von seiner Jugendfrische, Unbekümmertheit, Drastik und Unverwüstlichkeit eingebüßt. Strauß schildert die Lausbübereien, die Streiche, die'Narreteien und Einfälle des witzigen, geistvollen, lustigen Till Eulenspiegel. Er beschreibt den Ritt durch die zum Verkauf ausgestellten Ton töpfe und die darob kreischenden Marktweiber, die Maskerade Tills, der als Pastor verkleidet Moral pre digt, wie er dann ausreißt, wie er sich verliebt, wie er in eine Diskussion mit verstaubten Gelehrten ge rät, die nur den „grünen Tisch“ kennen und nichts vom Leben wissen, wie er sie auslacht, sich vor Ge richt verantworten muß, verurteilt und gehängtwird. Richard Strauß wählt für dieses Geschehen aus einer prallen vollblütigen Welt die Rondoform, die durch ihre immerwiederkehrende Zitierung des Haupt themas an die Art Eulenspiegels erinnert, überall dabei zu sein, überall seine Finger drin zu haben, überall seine Glossen zu machen. Dieses Aufeinander- beziehen eines lebendigen Geschehens und einer musikalischen Form ist genial. Und genial ist auch das Können, mit dem Strauß auf wartet. Man weiß nicht, was man mehr bewundern soll an diesem Werk und an seinem Schöpfer: die instrumentalen Künste, die schon bald Teufeleien sind, die Gabe der Drastik, mit der Strauß die verschiedenen Situationen schil dert, oder den Reichtum an geistvollen Wendungen und Veränderungen der musikalischen Substanz. Dieses Werk erobert die Herzen der Hörer. Mit Recht. Denn wo gibt es sonst ein ähnliches heiteres Werk, eine ähnliche Tondichtung von so befreiendem Hu mor? Hätte Strauß nur den „Till Eulenspiegel“ ge schrieben, es hätte allein genügt, ihn unsterblich zu machen. Joh. Paul Thilman.