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Eberhard KONGRESS-SAAL DEUTSCHES H Y G I E N E - M U S E U M Freitag, den 6. Dezember 1968, 19.30 Uhr 6. AUSSERORDENTLICH ES KONZERT anläßlich des 43. Deutschen Bach-Festes der Neuen Dresden 6.-9. Dezember 1968 B a ch-Gesellschaft Dirigent: Kurt Masur Solisten: Adele Stolte, Potsdam, Sopran Gerda Schriever, Leipzig, Alt Büchner, Tenor Werner Haseleu, Weimar, Baß Chor: Philharmonischer Chor Dresden Einstudierung Wolfgang Berger Jan Dismas Zelenka 1679-1745 Suite F-Dur Ouvertüre Aria Menuetto I und II Siciliano Folie Johann David Heinichen 1683-1729 Johann Sebastian Bach 1685-1750 Concerto grosso G-Dur Allegro Larghetto Allegro Solovioline: Konzertmeister Günter Siering Suite Nr. 3 D-Dur BWV 1068 Ouvertüre Air Gavotte I und II Bourree Gigue PAUSE Johann Sebastian Bach Kantate Nr. 206 „Schleicht, spielende Wellen" für Sopran, Alt, Tenor, Baß, Chor, Orchester und Continuo Text frei nach der Umdichtung von Wilhelm Rust und Woldemar Voigt ZUR EINFÜHRUNG Unser heutiges Konzert, das die Reihe festlicher Konzertveranstaltungen an läßlich des 43. Deutschen Bach-Festes der Neuen Bach-Gesellschaft in Dresden eröffnet, möchte neben den Aufführungen zweier Werke Johann Sebastian Bachs an zwei seiner Zeitgenossen erinnern, deren Wirken untrennbar mit der Musik geschichte Dresdens verknüpft ist: an Jan Dismas Zelenka, einen der bedeutend sten tschechischen Komponisten des Barock, der ein Großteil seines Lebens in Dresden verbrachte, und an Johann David Heinichen. Jan Dismas Zelenka, dessen Instrumentalmusik gerade in letzter Zeit verdiente Aufmerksamkeit gefun den hat, wurde 1679 in Lounovice (Böhmen) geboren. Nach erster musikalischer Unterweisung durch den Vater war er Zögling des Prager Jesuitenkollegs, kam 1710 als Kontrabassist an die Dresdner Hofkapelle, studierte 1715 bei I. J. Fux in Wien Kontrapunkt und lockerte 1716 bei A. Lotti in Venedig seinen strengen Stil auf. 1721 ernannte man ihn in Dresden zum Vizekapellmeister der Kirchen musik. Er gehörte neben dem Hofkapellmeister J. D. Heinichen und dem Italiener G. A. Ristori zu den führenden Persönlichkeiten des Dresdner Musiklebens zur Zeit Augusts des Starken, d. h. der vor-Hasseschen Ära. Wie Ristori versuchte er 1729 vergeblich, Heinichens Nachfolger zu werden. Alles wartete schon auf Hasse, in dessen Schatten, zurückgezogen und wenig beachtet, er nach 1734 bis zu seinem Tode am 23. Dezember 1745 in Dresden lebte. 1735 war er noch zum „Kirchencompositeur" ernannt worden. Auf diesem Gebiet, mit ca. 20 Messen, einem großartigen Requiem, einem Magnificat (das Wilhelm Friedemann Bach für seinen Vater kopierte), drei Oratorien und vielen anderen Kirchenstücken, hat er wohl auch sein Bestes gegeben (die Sächsische Landesbibliothek besitzt zahlreiche Kirchenkompositionen des Meisters, die der Entdeckung harren). Übrigens legte Zelenka in Dresden eine Art Stil-Enzyklopädie an, indem er die berühmtesten geistlichen Tonsätze alter Meister kopierte, die ihm zu gelehrten Studien dienten. Zur Krönung Karls VI. 1723 in Prag zum böhmischen König schrieb er die Schuloper „De sancto Wenceslao". An Instrumentalwerken schuf er Suiten, Capriccios, Intraden, Märsche, Sonaten, ein Concerto, eine Sinfonie u. a. Längst noch nicht sind alle seine Kompositionen aufgefunden worden. Die Suite F-Dur aus dem Jahre 1723 vereinigt fünf musikantische Stücke, in denen melodischer Erfindungsreichtum, harmonische Phantasie sowie ein volks naher Zug begegnen. Eine dreiteilige französische Ouvertüre mit pompös-fest lichem Einleitungs- und Schlußteil und einem lebhaften fugierten Mittelteil er öffnet das gehaltvolle Werk. Intimer im Ausdruck wirken nach dem echt barocken Pathos der Ouvertüre die ausdrucksvolle Streicher-Aria, der anmutige Menuett- Satz und das liebliche Siciliano (alter sizilianischer Tanz pastoralen Charakters im ruhigen 12 ,' 8 -Takt). Eine beschwingte Folie (Volkstanz angeblich portugie sischer, wahrscheinlich aber spanischer Herkunft) bildet den Ausklang. Eine führende Stellung als Hofkapellmeister Augusts des Starken und leitende Persönlichkeit des vielfältigen, reichen Musiklebens am Dresdner Hof der vor- Hasseschen Zeit nahm der sächsische Barockmeister Johann David Hei nichen ein. Der Komponist, gleichzeitig einer der bedeutendsten Musiktheo retiker seiner Zeit, war von 1717 bis zu seinem verhältnismäßig frühen Tode 1729 in Dresden tätig und genoß hier eine hohe Wertschätzung. Vorher wirkte der in Weißenfels geborene Heinichen, der — wie später W. F. Bach — in Leipzig die Thomasschule besucht und dort Jura studiert hatte, als Advokat in Weißenfels und als erfolgreicher Opernkomponist in Leipzig und Zeitz. Von 1710 bis 1716 lebte er in Italien (meist in Venedig) und konnte dort als Komponist von Opern, Kantaten, Konzerten und Serenaden gleichfalls große Erfolge erringen. Kurprinz Friedrich August von Sachsen verpflichtete ihn in Italien für den Dresdner Hof. Heinichens Tätigkeit erstreckte sich neben Kirchenmusik-, Konzert- und Opern aufführungen seit 1719 namentlich auf Serenadenmusiken; so schrieb er bei spielsweise für die Feierlichkeiten anläßlich der Vermählung des Kurprinzen 1719 die Serenade „Diana auf der Elbe" oder für eine Jagdgesellschaft die „Serenata di Moritzburg" als Tafelmusik. Das überaus reiche Schaffen Heinichens umfaßt neben den vielen Serenaden und Festmusiken dieser Art hauptsächlich Opern, Kantaten, Sinfonien, Konzerte Orchestersuiten, Kammermusikwerke sowie zahlreiche kirchenmusikalische Kom Positionen (u. a. Oratorien, Motetten, Messen). Große Verbreitung erlangte auch seine Generalbaßlehre von 1711 (zweite erweiterte Ausgabe 1728), ein sehr beachtenswertes theoretisches Werk. Der größte Teil der erhaltenen Komposi tionen Heinichens, der - nach R. Engländer - gerade auf dem Gebiete des Konzerts und des barocken Orchesterklangs als eine der ursprünglichsten und wesentlichsten Begabungen im Umkreis des (ihm persönlich bekannten) berühm ten Italieners Antonio Vivaldi anzusehen ist, wird in der Musikabteilung der Sächsischen Landesbibliothek aufbewahrt. Auch das heute zur Aufführung gelangende Concerto grosso G-Dur, das 1955 zum ersten Male im Druck erschienen ist, befindet sich in einer Hand schrift hier. Das reizvolle Werk stellt eine interessante Kombination zwischen Concerto-grosso-Form (Soli- und Tutti-Episoden) und Solokonzert (mit kon zertierender Violine) dar. Besonders hervorzuheben ist das impulsive, farbige Kontrastspiel von Blas- und Streichinstrumenten sowie die deutliche Betonung des Gegensatzes zwischen forte- und piano-Partien. Der wohl stärkste Teil des dreisätzigen Concertos ist der langsame zweite Satz, ein kammermusikalisch intimes Larghetto mit dem Dialog von zwei Flöten, Violine und Oboe, dem ein geistvoll-brillanter Schlußsatz folgt. Johann Sebastian Bachs vier Orchestersuiten, von denen die beiden ersten vermutlich noch der Zeit entstammen, in der er als fürstlicher Kapellmeister in Köthen wirkte, während die zwei anderen in Leipzig geschrieben wurden, stel len Musterbeispiele der Barocksuite dar und werden durch die besonderen Kenn zeichen seines Stiles, durch die selbst in den Tanzsätzen spürbare kontra- punktische Arbeit und den Reichtum der Erfindung weit über den Charakter der Gebrauchsmusik herausgehoben, als die sie ihr Komponist und seine Zeit wahr scheinlich nur empfanden. Der erste Satz (Ouvertüre) der dreichörigen Suite Nr. 3 in D-Dur für zwei Oboen, drei Trompeten, Pauken, Streichquartett und Continuo beginnt mit einem feierlichen Grave-Einleitungsteil im punktierten Rhythmus, dem sich ein ausgedehntes Fugato anschließt. Trompeten und Pauken setzen helle Glanzlichter. Der zweite Satz ist der berühmteste: ein Air, was Lied, Gesang, Arie bedeutet. Die unerhört ausdrucksvolle, ergreifende und zugleich trostvolle Melodie der Violinen dieses vom Streichquartett auszuführenden Satzes gehört zu Bachs gefühlsreichsten Einfällen (kein Wunder, daß sie in einer romantisch-gefühlvollen Bearbeitung verfälscht wurde). In den anschließenden beiden Gavotten wirken die Trompeten mit tonangebend. Nach einer Bourree folgt eine längere Gigue, in der ebenfalls der Trompetenchor registerhaft eingesezt ist. Die Kantate Nr. 206 „Schleicht, spielende Wellen" ist nicht mit, Sicherheit datierbar. Vermutlich wurde sie anläßlich des Geburtstagsfestes Augusts III., Kurfürst von Sachsen, König von Polen, 1736 in Leipzig dargeboten und als Namenstagskantate 1740 erneut aufgeführt. Aus der ursprünglichen Huldigungskantate für August III., in der die Flüsse der sächsisch-polnischen Lande als redende Personen in Erscheinung treten, ist in der unserer heutigen Aufführung zugrunde liegenden Umdichtung des (nicht eben wertvollen) Original librettos eine Frühlings-Kantate geworden, die das spezifische naturpoetische Kolorit der Bachschen Musik weitgehend wahrt. Die Autoren der textlichen Neu fassung sind Wilhelm Rust (1822—1899), seit 1880 Leipziger Thomaskantor, der mit der Umtextierung des Eingangschores begann, und Woldemar Voigt (1850-1919), der Göttinger Physiker und Musikschriftsteller, der die Arbeit weiter vorantrieb. Die bereits mehrfach, u. a. bei verschiedenen Bach-Festen erprobte Fassung, wurde für die heutige Aufführung in Details überarbeitet. Struktur und Musik der Kantate, die viele Kostbarkeiten Bachscher Kunst ent hält, wurden in keiner Weise angetastet. Zwei akkordisch-polyphone Chöre umrahmen die Rezitative und Arien der Solostimmen, die mannigfaltige instru mentale Behandlung aufweisen. Dr. Dieter Härtwig