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ZUR EINFÜHRUNG Mit einem Spätwerk Zoltän Kodälys beginnt die heutige Programmfolge, mit der Sinfonie C-Dur aus dem Jahre 1961, die am 16. August 1961 in Luzern vom Schweizer Festival-Orchester unter Ferenc Fricsay erfolgreich uraufgeführt wurde. Das Werk stellt einen beredten Beweis dar für die auch im hohen Alter ungebrochene schöpferische Kraft des ungarischen Meisters, der bei der Entstehung des Werkes, seiner einzigen Sin fonie übrigens, 79 Jahre alt war! Symbolische Bedeutung hat die Widmung der Sinfonie: „In memoriam Arturo Toscanini“, die nicht nur eine Huldigung an den großen Dirigen ten ist, der dieses Werk inspirierte, eine Erinnerung an die Zeit gemeinsamen Wirkens, sondern zugleich ein Besinnen auf die eigene gradlinige künstlerische Laufbahn, da dieselbe Widmung auch auf der Partitur des 1906 geschaffenen, 1929 30 neu bearbeite ten frühen Orchesterwerkes „Sommerabend“ steht. „Zu noch tiefsinnigeren Symbolen führen die Tonart - C-Dur -, die auf Pentatonik aufgebauten Melodien und Harmonien des Werkes sowie die Behandlung der Streich instrumente. In ihrer Gesamtheit bedeutet die Sinfonie das Einstehen Kodälys für das eigene kompromißlose Leben, sein Glaubensbekenntnis zu den jahrzehntelang verkün deten Idealen - zum ungarischen Volkslied und den klassischen Überlieferungen. Die Treue zu diesen beiden Idealen bewahrte ihn davor, in seinen späteren Werken den Weg verlassen zu müssen, den er bis dahin gegangen war. Die Treue zu sich selbst ist die Er klärung dafür, daß er nicht neue Ziele suchen, nicht von neuem experimentieren mußte, um irgendeinen ,sublimierten“ Stil auszubilden. Die Unisono-Einführung des in Sonatenform geschriebenen ersten Satzes, das sich unter und über einem C-Orgclpunkt entfaltende, in la-Pentatonik neigende Hauptthema, der A-Dur-Seitensatz und das akkordische Schlußthcma verkünden programmatisch die Einheit der einstimmigen Pentatonik des Ostens und der Dur-Moll-Vielstimmigkeit des Westens. Für die Durchführung sind die imitierende Struktur, spezifisch Kodälysche Anwendung der Mixturen und die durchsichtige Instrumentierung charakteristisch. Die Reprise führt steil emporsteigend zur Koda. Der zweite Satz ist eine Art Volkslied- Variation in drei Teilen, die Apotheose der Seele, des tiefsten Wesens des Volksliedes. Der sofort anschließende dritte Satz ist ein rondoartig gestaltetes tänzerisches Finale. Die Sinfonie ist ein Rückblick, gleichzeitig auch eine Summierung aller Errungenschaften, die in früheren Kammerwerken und sinfonischen Schöpfungen Kodälys heranreiften.“ (L. Eösze) Kodäly war ein Komponist, dessen Schaffen in starkem Maße vokal inspiriert wurde. Sein Vokalstil reifte an den Liedern. „Es schien mir als ein dringendes und brennendes Problem, wie man das ungarische Lied von seinen uralten Wurzeln bis zur künstleri schen Höhe des ausländischen Liedes emporheben könnte. Die Wege zu diesem Ziel kann man nirgends sonst suchen, als in der musikalischen Atmosphäre unserer Dörfer“, sagte Kodäly 1932. Er wurde der Schöpfer des modernen ungarischen Kunstliedes. Zahlreiche Transkriptionen und Volksliederbearbeitungen für Solostimme und Klavier, die zehn Hefte „Ungarische Volksmusik“, nehmen neben selbständigen Schöpfungen einen bedeutenden Platz im Oeuvre des Meisters ein. Im Vokalschaffen berücksichtigte er seine Erkenntnis, daß die ungarische Wortbetonung keine bloße dynamische Erschei nung, sondern eine rhythmische, sogar eine melodische ist. Damit dieser ursprüngliche rhythmisch-melodische Duktus vollständig erhalten bleibt, werden die heute erklingenden Gesänge Kodälys in der ungarischen Originalsprache gesungen. Die deutschen Über setzungen der Texte sind im Anschluß an diese Einführung im vorliegenden Programm heft abgedruckt. Zweck der Kodälyschen Volkslicderbcarbeitungcn war, nach seinen Worten, „daß das breite Publikum das Volkslied kennen- und lieben lerne“. Im Inter esse dieses Zieles muß man „das Beste vom Besten auswählen und cs in einer musi kalischen Bearbeitung dem Publikumsgeschmack näherbringen. Es braucht sozusagen ein neues Kleid, wenn wir es vom Feld in die Stadt hereinholen. Das Kleid muß ihm angepaßt werden, damit es ihm nicht den Atem abschnürt . . . Die Begleitung muß immer nur trachten, die verlorenen Felder, das verlorene Dorf zu ersetzen“. In seiner Sammlung „Ungarische Volksmusik“, deren zehn Hefte zwischen 1924 und 1932 herauskamen, sind 57 Balladen und Volkslieder enthalten - in Bearbeitungen, die den Ideengehalt des Volksliedes, seine melodische und textliche Aussage hervorragend zur Geltung bringen. Die Szekler Volksballade „Kädär Kata“ setzte Kodäly 1943 für Alt stimme und kleines Orchester. Die anderen Gesänge des heutigen Programms, wie „Kädär Kata“ der Sammlung „Ungarische Volksmusik“, Heft IV bzw. V entnommen, instrumentierte der österreichische Komponist Paul Angerer (geb. 1927) im Sinne Kodälys. Die „Tänze ans Galänta“, nach den Marosszekcr Tänzen seine zweite große Tanz komposition für Orchester, schrieb der Komponist 1933 anläßlich des 80jährigen Be stehens der Budapester Philharmonischen Gesellschaft. Galänta ist ein kleiner ungari scher Marktort an der alten Bahnstrecke Wien-Budapest, in dem der Komponist sieben Jahre seiner Kindheit verbrachte. Damals wirkte dort eine berühmte, seither ver schollene Zigeunerkapelle, die dem Knaben ersten „Orchesterklang“ vermittelte. Um 1800 erschienen in Wien etliche Hefte ungarischer Tänze im Druck, unter denen sich auch eines „von verschiedenen Zigeunern aus Galäntha“ befand. Kodälys „Tänze aus Galänta“ greifen auf dieses alte, überlieferte Volksgut zurück, denn die Hauptmotive des Werkes entstammen jener erwähnten Sammlung. - Die Einleitung der tempera mentvollen Komposition wird von einem kurzen Ruf der Celli bestimmt, dem die übrigen Streicher und Instrumente spielfreudig antworten. Nach einer Solokadenz bringt die Klarinette das im Andante maestoso stolz daherschreitende Hauptthema, dessen zurückgehaltene Leidenschaftlichkeit in der Wiederholung bereits zum Ausdruck kommt. Anschließend erklingt ein ungarischer Werbungstanz in mäßiger Bewegung. Der ersten Reprise des Hauptthemas folgt ein anfangs zierlicher, dann sich immer mehr steigernder Tanzsatz. Buntwirbelnd ist der Charakter des nächsten musikalischen Geschehens. Nach einem lustigen Intermezzo wird der feurige Sporntanz angestimmt, der den Abschluß des Werkes bildet. Wie von fern tönt noch ein letztes Mal das Hauptthema herein. Zündenden Abschluß des heutigen Konzerts bildet die längst volkstümlich gewordene Suite aus dem Singspiel „Häry Jänos“, die auch als Schallplattenproduktion der Dresd ner Philharmonie unter Leitung Carl von Garagulys bei Eterna vorliegt. Kodälys erstes Singspiel entstand 1925 26, gleichzeitig mit den ersten Heften der „Ungarischen Volks musik“, und wurde am 16. Oktober 1926 in Budapest uraufgeführt. Über den Helden dieses Bühnenwerkes, Häry Jänos, eine historische Figur aus dem Anfang des 19. Jahr hunderts, ein Veteran der napoleonischen Kriege, berichtet der ungarische Dichter Jänos Garay, der selbst ein episches Gedicht über dessen Heldentaten verfaßte, fol gendes: „Häry ist bäuerlicher Herkunft, ein ausgedienter Soldat. Tag für Tag sitzt er in der Schenke und erzählt von seinen unerhörten Heldentaten. Da er ein echter Bauer ist, sind die grotesken Ausgeburten seiner Phantasie eine wunderbare Mischung von Realis mus und Naivität, Komik und Pathos. Und doch ist Häry nicht einfach ein ungarischer Münchhausen. Dem Anschein nach ist er ein Maulheld und Aufschneider, ist er dem Wesen nach der Typ des begeisterten Träumers, ein geborener Schwärmer und Dichter. Seine Erzählungen sind nicht wahr, aber darauf kommt es ja auch nicht an. Es sind Früchte seiner lebhaften Phantasie, die für ihn selbst und für andere eine schöne Traumwelt schafft.“ Kodälys Musik zum Singspiel „Häry Jänos“ ist bald volksliedhaft, bald illustrierend, immer aber von erstaunlicher Mannigfaltigkeit: lyrisch, humorvoll, spöttisch. Die Häry-Jänos-Suite vereinigt in ihren sechs Sätzen charakteristische Stücke aus dem Büh nenwerk, über die der ungarische Musikwissenschaftler Zoltän Gärdonyi im einzelnen schrieb: „Das Vorspiel ist betitelt: ,Das Märchen beginnt“. Häry fängt an, in der Dorf schenke von seinen erträumten abenteuerlichen Heldentaten zu erzählen. Wie Härys Hirngespinste, so beleben sich allmählich die Stimmeneinsätze des Fugato, bis dann im