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Blick nach Österreich Es mag für manchen Hörer vermessen erscheinen, von „österreichischer“ Musik zu sprechen, nennen wir doch Haydn, Mozart und Beethoven in einem Atemzug als „Klassiker“, ohne zu unterscheiden, daß Haydn und Mozart dem österreichischen Kulturkreis angehören, Beethoven jedoch dem deutschen. Auch im 20. Jahrhundert ist eine scharfe Trennung nicht möglich: Schönberg wirkte in Wien und Berlin, Mahler wurde in Kaliseht (Mähren) geboren, gehörte aber dennoch zum Wiener Kreis, der Österreicher Johann Nepomuk David wählte Deutschland als Wahlhei mat, während deutsche Komponisten ihre Wahlheimat in Salzburg oder Wien fan den. Und doch gibt es so etwas wie eine eigengeprägte österreichische Musik, die sich auszeichnet durch eine starke Landschaftsbezogenheit (alpenländische und Wiener Volksmusik), durch ihre ausgeprägten und oft bis zur Expression gestei gerten Gefühlsmomente (Schönberg), durch eine resignierende Weichheit des Emp findens (Alban Berg), durch den Sinn für differenzierte Klangstufungen, die bis zum Punktuellen führten (Anton Webern), und nicht zuletzt durch die Bevorzugung liedhafter Elemente im Sinne der Schubortschen Sinfonik (Gustav Mahler). Von Rainer Maria Rilkes „Ich hör so gerne böhmischen Volkes Weise“ über die abgrundtiefe Trauer der Verse Georg Trakls „Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern“ bis zu Hugo von Hofmansthals resignierender Frage „Was frommt das alles uns und diese Spiele, die wir doch groß und ewig einsam sind?“ schwingt der Ausdrucksbogen der modernen österreichischen Musik. Das Erinnern berührt uns stärker als das Vorwärtsblicken in die Zukunft, doch der Ton menschlicher Herz lichkeit ist so echt und unmittelbar— im Verzicht wie in der Freude gleichermaßen überzeugend—, daß wir ihn im europäischen Gesamtklang nicht missen möchten. Gustav Mahler gehört zu den großen Verkannten unseres Jahrhunderts. Es ist erschreckend still um ihn geworden. Die junge Generation kennt ihn kaum noch. Von 1933 an war seine Musik verboten, nach 1945 erklangen allenfalls seine erste und vierte Sinfonie sowie das „Lied von der Erde“. Nur vereinzelt wurde über ihn geschrieben: Zum 40. Todestag erinnerte Georg Knepler in „Musik und Gesell schaft“ (1952, Heft 1 und 2) an den „großen Musiker und großen Menschen“, und 1955 veröffentlichte der in Dresden bestens bekannte Züricher Komponist eine mu tige Broschüre „Zum Werk Gustav Mahlers“ (C. F. Kahnt, Lindau/Bodensee). Mahler war ein Mann der Praxis, einer der genialsten Dirigenten seiner Zeit, Opern- direlctor in Wien, ein Feind aller erstarrten Routine („Tradition ist Schlamperei!“), ein „Felsenstein des Dirigentenpultes!“ Als Komponist war Mahler Sinfoniker und Lyriker, der klassische und romantische Einflüsse (bis hin zu Bruckner) schöpferisch verarbeitete, der aber auch dem rein Expressiven nicht auswich und mit seinen letzten Werken unmittelbar das Tor der „Neuen Musik“ erreichte.