Vor und nach dem Expressionismus Von Jahr zu Jahr klärt sich die Musikgeschichte der Gegenwart: Was vor 15 Jahren noch verworren schien, steht heute ohne Geheimnis vor uns. Wir haben Abstand gewonnen und erkennen dadurch Entwicklungslinien, Rich tungen, Strömungen, die sich ergänzen und zum geschlossenen Ganzen ordnen. Kurz vor Beginn des ersten Weltkrieges schrieben Reger und Stephan ihre Werke: Reger als später Nachklang der Romantik, Stephan als „Pfadfinder des Neuen“. Die musikalische Auseinandersetzung nach dem ersten Welt krieg — unter dem Namen Expressionismus in die Geschichte eingegangen — erlebten sie beide nicht mehr. Stephan fiel 1915, Reger starb ein Jahr darauf. 20 Jahre später: Der Expressionismus — eine wichtige und notwendige Durchgangsstufe — ist verklungen. Die Auseinandersetzung hat gelohnt. Eine neue Ebene ist erreicht. Finke und Hindemith lassen in ihren Werken von 1932 den Nachklang des ungestümen expressiven Musizierons erkennen, zugleich aber das Ringen um eine neue Ordnung, um eine neue vitalistische Musik. Rudi Stephan gehörte wie der Maler Franz Marc und der Dichter Gerrit Engelke zu den Frühvollendeten, die ihr junges Leben im ersten Weltkrieg opfern mußten. 1887 in Worms geboren, studierte Stephan u. a. bei Bernhard Sekles in Frankfurt und bei Rudolf Louis in München, erregte 1912/13 auf den Tonkünstlorfesten in Danzig und Jena berechtigtes Aufsehen, weil er einer der ersten Komponisten war, der sich bewußt von der nachromantischen Klangpracht eines Franz Liszt und Richard Strauß abwendete und zu einer teilweise stark konstruktiv gearbeiteten „absoluten“ Musik vorstieß. Schon die Namen seiner wenigen, aber bedeutsamen Werke verraten das starke Streben zur „reinen“, nicht programmatischen Musik: Stephan schrieb u. a. eine „Musik für 7 Saiteninstrumente“, eine „Musik für Orchester“ und die „Musik für Geige und Orchester“ in einem Satz, die von Rudi Stephans Freund und Förderer Dr. Karl Holl aus dem Nachlaß herausge geben wurde und 1924 erschien. Die Uraufführung fand am 10. Oktober 1913 in Berlin statt. Die stark persönliche, spannungsreiche, leicht expressive Musik (Taktwechsel und Mischklänge bestimmen die Eigenart dieses Werkes) lassen erkennen,