Anton Bruckner (1824—1896) ist mit neun Sinfonien in die Unsterblichkeit eingegangen. Aber nur wenige wis sen, daß er elf Sinfonien geschrieben hat, daß den be kannten und berühmten neun zwei unbekannte, ja ver heimlichte und von ihm verleugnete vorangegangen sind. Nach der „Schulsinfonie" in f-moll und der wirklichen Ersten schiebt sich noch die 1869 komponierte soge nannte ,.Nullte" Sinfonie in d-moll ein, die Bruckner der Oeffentlichkeit vorenthielt mit der Ueberzeugung, daß dieses Werk nichts wert sei. Sie ist dann aus dem Nachlaß im Jahre des 100. Geburtstages Bruckners 1924 veröffentlicht worden. Dieses Werk zeigt in jedem Takt die unverwechselbare Handschrift des Meisters. Diese Sinfonie braucht sich im Kreise ihrer neun berühmten Schwestern nicht zu schämen. Es ist zwar so, daß ihre Themen gegenüber den späteren Werken eine gewisse Naivität und Beschei denheit erkennen lassen, daß die Durchführungen noch nicht von einer so majestätischen Größe sind und die Kontraste’) noch nicht so scharf profiliert wie später — aber im ganzen ist sie schon ein vollgültiges Werk und ist würdig, Bruckners Namen zu tragen. Der erste Satz entwickelt drei Themen, die er mit vol ler Entfaltung des Blcchbläserchores durchführt, um sie dann wiederholt nochmals aufzuzeigen. Eine großartige Schlußsteigerung dieses Satzes deutet klar auf den spä teren Bruckner hin. Der zweite Satz ist von choralartiger Schönheit. In ihm ist schon eine sehr dichte motivische Arbeit von höchster Kunstfertigkeit festzustellen. Das Scherzo ist sehr konzentriert, das Wechseltonmotiv des Anfangs spielt eine architektonisch wichtige Rolle. Ein knappes, zartes Trio bildet den denkbar schärfsten Gegensatz dazu. Nach der kurzen, langsamen Einleitung des Schlußsatzes erklingt ein wuchtiges Unisono-Thema*), dessen Kopfmotiv, ein Oktavsprung*) nach unten und ein Dezimensprung 4 ) nach oben, für die Weiterentwick lung und Durchführung sehr wichtig ist. Das zweite Thema wird zunächst von den Geigen vorgesungen; aber erst die Celli erfüllen es mit sehnsüchtigem Ausdruck. Das dritte Thema, ein Choral in den Streichern, leitet zu den ruhigen Anfangstakten dieses Satzes über, die eine großartige Durchführung vorbereiten. In ihr zeigt sich schon die Meisterschaft Bruckners. Diese Sinfonie enthält im Keime alles, was Bruckner später nur ein dringlicher und deutlicher wiederholte und ausbaute. Seien wir dankbar, daß es die ,.Nullte" neben ihren großen Schwestern gibt. ’) Kontrast (Gegensatz) s ) Unisono (einstimmig) 5 ) Oktav-Sprung (8. Ton nach dem Grundton) *) Dezimen-Sprung (10. Ton nach dem Grundton)