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Jean Sibelius Wenn ein Mensch ein so hohes Alter erreicht wie Jean Sibelius, der am 8. Dezember seinen 90. Geburtstag feiern kann, dann kann es möglich sein, daß er und sein Schaf fen schon in Vergessenheit geraten ist, oder daß er schon unter die Klassiker gerech net wird. Bei Sibelius trifft das zweite zu. Kr ist über seine Bedeutung als Haupt vertreter der finnischen Musik weit hinausgewachsen. Er hat heute schon Welt geltung. Er ist ein schönes Beispiel für die Richtigkeit jener Auffassung, daß ein Komponist um so mehr die Welt anzusprechen vermag, je mehr er auf den nationalen Eigentümlichkeiten der Volkskunst seiner Heimat auf baut. Nicht die kosmopolitisch gesichtslose Musik wird sich durchsetzen, sondern die Musik, die einen ganz an ein Volk gebundenen Charakter zeigt, wird von den anderen Völkern geschätzt und geliebt, weil einzig sie einen Weg zum Herzen und zum Gemüt, zum Geiste und zum Wissen jenes Volkes, dem sie entspringt, weist. Obgleich Sibelius keine originale finnische Volksweise in seinen Werken verwendet hat, klingt in allen seinen Melodien das finnische Volkslied auf, ist in seiner Musik die engste Ver wandtschaft mit der Volksmusik seiner Heimat unmittelbar spürbar. Das „Land der tausend Seen“ spricht aus seiner Musik, manchmal wild und unheimlich, manch mal geheimnisvoll und zart. Seine Werke sind von dunkler Schönheit wie die endlosen Wälder ■— und von einer farbigen Tiefe wie die vielgestaltigen Seen. Die Natur seiner Heimat und die Sagen seines Volkes gaben ihm die bedeutendsten Anregungen zu vielen Werken. Er ist also immer ein Programmusiker, auch dort, wo er in den Titeln seiner Werke das Programm verschweigt, also in seinen sieben Sinfonien. Seine sinfonischen Dichtungen haben zum Teil einen Siegeslauf um die Welt angetreten. Er hat außerdem ein Violinkonzert komponiert. Ergänzt wird sein Schaffen durch viele Kammermusikwerke, Violin- und Klavierstücke, Bühnen musiken, viele Männerchöre und Kantaten, meist mit Texten aus dem finnischen Leben der Vergangenheit, eine Eülle von Liedern und der Oper „Die Jungfrau im Turme“. Sibelius komponierte seine 2. Sinfonie D-Dur, op. 43, im Jahre 1902. Der 1. Satz könnte ein Abbild der unermeßlichen rauschenden Wälder Finnlands sein. Der 2. Satz ist eine Ballade vom finnischen Menschen, der sich von der er habenen Größe der nordischen Natur nicht kleinkriegen läßt. Der 3. Satz ist stürmisch und lebhaft — er scheint vom brausenden Wind zu erzählen, der sich zum wilden Sturm aufpeitscht, aber auch zum lieblichen Säuseln beruhigt. Der Finalsatz, der sich zu einer gewaltigen Steigerung erhebt, kann als eine Verherr lichung der Natur Finnlands gelten, die das Leben der Finnen heute noch maß geblich prägt. Mit diesem Bekenntnis des Komponisten zu seiner Heimat schließt das Werk, das gerade deswegen die weltweite Anerkennung gefunden hat. Th. Einführungsvortrag: Gottfried Schmiedel • Textliche Mitarbeit: Johannes Paul Thilman Literaturhinweis: Strobel, Paul Hindemith • Istel, Paganini • Ringbom, Jean Sibelius Vorankündigung: 12. und 13. November: 3. Mozart-Abend • Dirigent: Prof. Heinz Bongartz 18. November: Sonderkonzert • Gastdirigent: Karel Sejna, Prag Werke von Mozart, Smetana, Schubert, Dvorak 3. und 4. Dezember: 4. Philharmonisches Konzert Dirigent: Prof. Heinz Bongartz 6629 Ro 111-9-5 1055 1.3 ll G 009/55