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Das neue Geschichtsbild formen IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIMIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII Der Prorektor für die Gesellschaftswissenschaften und die Redaktion der „Vniversi- tätszeitung“ hatten anläßlich des Nationalkongresses in der vergangenen Woche nam hafte Wissenschaftler unserer Universität zu einem Rundtischgespräch über das nun mehr vom Nationalkongreß als nationales Programm des Kampfes für das neue Deutschland beschlossene Dokument eingeladen. Das Rundtischgespräch, das im Haus der Wissenschaftler stattfand, demonstrierte nachdrücklich die persönliche Verantwortung des Wissenschaftlers bei der Erziehung der Studenten zu einem Geschichtsbild, das die Lehren der deutschen Geschichte beachtet und Weg in die Zukunft der Nation weist. Zu gleich wurde die Rolle der Wissenschaft bei der weiteren ökonomischen und wissen schaftlichen Stärkung unserer Republik herausgestellt. Nachfolgend veröffentlichen wir wesentliche Teile des Rundtischgespräches. Prof. Dr. Gentzen: Ich bemerke bei den Prüfungen in meinem Fachgebiet, wie wenig oft die Stu denten historisches Verständnis für das, was sie gelehrt bekommen haben, besitzen. Es ist mitunter erschreckend, wie formal und dogmatisch manche Dinge ankommen. Solche Absolventen können aber doch nachher auch den Schülern, den Kindern in der Schule, nichts Rechtes vermitteln. Ich glaube, wir, die wir alles erlebt ha ben, müssen zuallererst in der Lage sein, das richtig zu vermitteln; die Erziehungs aufgabe aller Fächer ist hier sehr, sehr wichtig. Ich weiß nicht, wer das einmal gesagt hat: Das nationale Dokument stellt an jeden von uns die Frage: Wo gruppierst du dich ein, dein eigenes Leben und dein eigenes Verhalten? Ich weiß nicht, wie viele das gemacht haben, ich glaube aber, diese Frage müßte sich jeder von uns stellen, müßte nicht nur sein eigenes Leben Revue passieren lassen, sondern auch noch einmal die Geschichte. Ich habe jedenfalls die Erfahrung gemacht: Wenn man aus den eigenen Erlebnissen er zählt hat, von dem sehr widersprüchlichen Entwicklungsgang der Älteren, daß dann die Studenten ungeheuer gespannt gewesen sind, und auf einmal geht ihnen so man ches auf. Jeder von uns kann wahrscheinlich ein Buch über sein eigenes Erleben schreiben. Bei meinem Sohn wiederholt sich der verhängnisvolle Irrtum Ich habe vor einiger Zeit einen Artikel in der „Universitätszeitung“ veröffentlicht; ich weiß nicht, ob Sie ihn gelesen haben. Er betrifft das eigene Leben, aber eben sehr verallgemeinert. Ich bin nicht gleich Kommunist gewesen, sondern ich wurde erst im Ergebnis meiner Erlebnisse im zweiten Weltkrieg Kommu nist, wobei die Schlacht von Stalingrad eine sehr große Rolle gespielt hat; sie kompri mierte mein Erleben als Teilnehmer an dieser Schlacht. Und diese Schlacht hat ja das Schicksal Deutschlands komprimiert, die weitere Entwicklung Deutschlands. Alles, was man vorher nicht geglaubt hat. — hier wurde es konzentriert dargestellt: die Hohlheit, die ganze Verlogenheit des Nazi regimes. Ich bin Berufsoffizier gewesen, und ich habe erlebt, daß die Soldaten ihre Gewehre hingeworfen haben und nicht mehr mit machten, wenn Generalstabsoffiziere die Soldaten angesprochen haben: „Hier hast du ein Gewehr. Du kriegst einen Teller Suppe, Brot und sechs Patronen.“ Die Ant wort lautete: „Wir denken gar nicht daran.“ Wir haben es nicht verstanden, sofort die Schlußfolgerungen zu ziehen; das war ganz klar. Wie sollte man es auch gekonnt ha ben! Da kamen Leute, die Hitler im Haupt quartier erlebt haben, z. B. Major Bechler. Er erzählte vom Teppichbeißer. Das war für uns etwas Neues und zeigte uns, wel ches Häufchen Dreck Hitler im Grunde ge wesen ist, der Deutschland regiert hat. Und so kam noch eine ganze Reihe ähnlicher Dinge hinzu. In der Kriegsgefangenschaft hat uns ein alter Sozialdemokrat, der Lehrer Fritz Rückert, auf ganz neue Gesichtspunkte auf merksam gemacht. Kommunisten haben wir damals noch nicht kennengelernt; die kamen später. Dann gingen die Auffassun gen über Gespräche mit Kommunisten aus einander. Die einen sagten: „Wir wollen davon nichts wissen!“ und lehnten jede Diskussion mit Kommunisten ab. Die das abgelehnt haben, das sind die, die heute in Westdeutschland wieder den Ton angeben. Die anderen fingen an nachzudenken. Und so kam in der Kriegsgefangenschaft die Teilung zwischen denen, die sich für Deutschland verantwortlich fühlten und den Mut hatten, Fazit zu ziehen. Die an deren sprachen vom Fahneneid, den sie nicht brechen wollten. Aber Hitler war es doch, der ihn uns gegenüber gebrochen hatte. So begann sehr früh schon der Differen zierungsprozeß. Dabei gingen vielfach die besten Freundschaften auseinander. Ich habe mir das zunächst alles angehört,' wollte alles zuerst nicht wahrhaben, wollte das nicht glauben. Das änderte sich aber im Verlaufe der Zeit. Ich habe an den Ge sprächen teilgenommen, ohne daß ich mich zunächst dem Nationalkomitee „Freies Deutschland“ engeschlossen habe. Denn ich sah die Zusammenhänge gar nicht recht, konnte nicht erkennen, was die Gesprächs partner eigentlich wollten. Schließlich bin ich aber doch eingetreten. Ich bin klüger geworden und habe gesehen, was los war. Im Kriege schon wurde etwas Neues geboren, und wir hatten das Glück, damals schon mit vielen Dingen fertig zu werden. Wir hatten die Möglichkeit, auch unseren Teil zum Aufbu eines neuen Deutsch lands beizutragen. Das hat aber auch für uns eine lange Zeit gedauert. Wie bin ich überhaupt zum aktiven Offizier geworden? Ich habe in der Familie keinerlei derartige Traditionen gehabt. Als ich 1932 in das Hunderttausend- Mann-Heer eintrat, war es für mich schwer. Ursprünglich wollte ich Musik studieren, denn das ist meine Liebe ge- Universitätszeitung, Nr. 25; 21. 6. 1962, S, 2 wesen. Ich hatte außerdem auch techni sche Neigungen. Als die Zeit meiner Be rufswahl herankam, fragte mich mein Vater: „Was willst du denn werden?“ „Ich möchte Musik studieren“, sagte ich. „Das ist eine brotlose Kunst. Man muß ein Genie sein, andernfalls hat es keinen Zweck. Ich kann dir kein Geld dazu geben, mein Junge!“ Mein Vater war damals schon das fünfte Jahr arbeitslos. Und da kam der Gedanke — auch angeregt durch Freunde aus der Schule — Offizier zu wer den. Es tauchte auch der Gedanke auf, natürlich genährt durch Hinweise, daß man vielleicht von der Reichswehr aus an einer Technischen Hochschule studieren kann. Es hieß, man könne auch Flieger werden. Das war auch ein stilles Hobby von mir. Ich habe mich gemeldet, und man hat mich damals genommen. Auch mein Sohn aus erster Ehe hatte keinerlei Neigung, zum Militär zu gehen, aber da er kein Geld zum Studium hatte, kam er doch dazu, zur Bundeswehr als aktiver Sanitätsoffizier zu gehen. Und nun wurde ihm dieses Studium von der Bun deswehr angeboten. Es ist so erschütternd, daß sich das alles, was ich erlebt habe, noch einmal wieder holt, weil drüben keine Lehren aus der Geschichte gezogen werden. Mein Sohn sagte, er gehe auch ohne mich und gegen mich zur Bundeswehr, er könne keinerlei Rücksicht nehmen. Ich habe meinen Sohn beschworen, nicht den selben Weg zu gehen, den ich gegangen bin. Der Bruch mit seinem Vater war die ein zige Atemative, die ihm von der Bundes wehr gestellt worden ist. Mir blieb auch kein anderer Ausweg, um so mehr, als er es selbst so wollte. Prof. Dr. Mosler: Hier sieht man doch, wie zynisch und brutal man in Westdeutschland vorgeht. Das zeigt die ganze Verlogenheit des Bon ner Ausspruches: „Wir sind doch alle Brüder!" Zwischen zwei Stühlen gesessen Prof. Dr. Mühle: Als Student habe ich seinerzeit mein Praktikum in Leipzig absolviert. Ich bin auch Student in Leipzig gewesen, und zwar am Zoologischen Institut. Im Hörsaal saß zu meiner Linken ein Kommunist, zu mei ner Rechten ein Großbauernsohn. Da wir nebeneinander saßen, kamen wir ganz automatisch in Gespräche. Das war meine erste Berührung mit dem Kommunismus. Vorher hatte ich nur die andere Seite in meiner Umgebung. Nun gingen mir plötz lich die Augen auf. Ich muß aber sagen: Ein Durchdringen war noch nicht möglich. Dazu war ich noch nicht reif. Das war in den Jahren 1931/32. Es war so, daß der Großbauernsohn auf der einen Seite versuchte, mich an sich zu ziehen. Er war nicht gerade der Beste im Studium, und er wußte das. Der Groß bauernsohn suchte Anschluß. Mir ging es materiell wirklich nicht gut. Und mir war das deshalb gar nicht unangenehm. Der Großbauernsohn schleppte mich auf seine Paukböden. Ich konnte aber diesem Be trieb nichts abgewinneh. Wie gesagt, ich kam auf der anderen Seite auch mit dem Kommunisten immer wieder ins Gespräch. Dabei merkte ich, daß er Anschauungen vertrat, die mir sehr nahelagen, mich sogar begeisterten. Damals sagte ich mir: Wenn das die Auffassungen sind, die der Kommunismus vertritt, muß eigentlich etwas sehr Gutes dahinter stek- ken. Wir drei Studenten kämen dann im Ver lauf des Studiums auseinander. Es kamen der Krieg und das Kriegsende. Und da mußte ich an diese Zeit meines Studiums denken, vor allem daran, daß mir der junge Kommunist damals sagte: „In diese Richtung wird die Entwicklung gehen.“ Wenn ich nun mit meinen Verwandten über diese und jene Dinge sprach, wurde mir besonders deutlich, daß man in West deutschland stehengeblieben, nicht einen einzigen Schritt weitergegangen ist. Dieser deutliche Unterschied der Entwicklung in unserer Republik auf der einen Seite und im Verharren in den Verhältnissen der Vorkriegszeit andererseits zeigte mir sehr deutlich die Gefahren: die Kapi ta sten, d. h. die Industriemagnaten und Groß agrarier usw., gefährlich ist aller dings auch die Haltung einer Masse Gleichgültiger — ich beziehe das alles auf die kapitalistische Welt —, die keinen festen Standpunkt zur Entwicklung der Menschheit haben. Sie interessiert viel mehr, was ihre Eigensucht befriedigt. Darin tauchen sie fast unter. Kommt man mit diesen Menschen dennoch ins Gespräch, dann hört man von ihnen höchstens Phra sen. Prof. Dr. Mosler: Die Menschen drüben werden ja auch mit unzähligen Mitteln davon abgehalten, unser Leben zu verstehen. Sie werden so Prof. Dr. Gentzen während einer Beratung im Institut für Geschichte der europäischen Volksdemokratien. Rechts von ihm Instituts direktor Prof. Dr. Spiru, links die Assistenten Diemut Lötzsch und Hans Münch, Hatot MISS geleitet, sich nicht dafür zu interessieren. Das geschieht auf sehr raffinierte Weise. Prof. Dr. Mühle: Auch heute mußte ich an meine Kommi litonen von damals denken: an den Kom munisten und an den Sohn des Großagra riers; denn sie verkörpern die beiden Wel ten, die wir haben. Damals vor nunmehr dreißig Jahren, sah ich keine Möglichkeit, daß wir auf dem Wege zum Sozialismus einen Schritt weiterkommen könnten. Aber ich habe mich ja auch damals mit den fortschrittlichen Ideen nicht befaßt, habe nur am Rande etwas davon gehört. Heute dagegen ist mir klar, daß dieser Kom militone mit seinen Gedanken, mit seinen Ideen, Recht gehabt hat. Prof. Dr. Hesse: Im zweiten Weltkrieg habe ich mein Stu dium an der Universität. Leipzig beendet, aber mit welchen Mühen und Schwierigkei ten. Ich wurde dazu vom Wehrdienst ent lassen, um das Studium in einer befriste ten Zeit hinter mich zu bringen. Es war eine Zeit, die für ein gründliches Studium nicht ausreichte. Nach dem Kriege kam ich nach Leipzig. Ich habe damals gesehen, wie die Universität ausgeräumt wurde. Die Amerikaner haben alle Unterlagen und den gesamten Lehrkörper mitgenommen. Prof Dr. Mosler: Gerade die naturwissenschaftlichen Un terlagen wurden damals mitgenommen! Prof. Dr. Hesse: Ja, das wurde vollkommen gemacht. Vom Geophysikalischen Institut waren die mei sten Assistenten weg. Ich war 1945 ganz Gesprächs partner Prof. Dr. Lothar Mosler, Prorektor für die Gesellschaftswissenschaften; Prof. Dr. Werner Bahner, Direktor des Romanischen Instituts, 2. Prodekan der Philosophischen Fakultät; Prof. Dr. Felix-Heinrich Gentzen, Leiter der Abteilung Polen am Institut für Geschichte der europäischen Volks demokratien; Prof. Dr. Walter Hesse, Direktor des Instituts für Agrarmeteorologie und des Agrarmeteorologischen Observato riums; Prof. Dr. Eva Lips, Direktor des Ju- lius-Lips-lnstituts für Ethnologie und Vergleichende Rechtssoziologie; Nationalpreisträger Prof. Dr. Artur Lösche, Physikalisches Institut, Pro dekan für Forschung und wissenschaft lichen Nachwuchs an der Mathematisch- Naturwissenschaftlichen Fakultät; Prof. Dr. Erich M ü hl e, Direktor des Instituts für Phytopathologie, Prodekan der Landwirtschaftlichen Fakultät; Prof. Dr. Rudolf Quaas, Direktor des Instituts für Vorratspflege und Vor- ratsschutz, Prodekan der Landwirtschaft lichen Fakultät. allein auf weiter Flur. . Ich habe erlebt, wozu der Hitlerismus geführt hat, wenn sich so viele Menschen um die politischen Dinge nicht kümmern, sondern sie irgend wie laufen lassen, wenn sie sich sagen: „Es wird schon gehen“. Eben deshalb ist es nicht gut gegangen. Wir haben das doch in zwei Weltkriegen sehr eindringlich erlebt. Ich finde deshalb, daß man alle die Fak ten, die im nationalen Dokument angeführt sind, gerade auf Grund eigener Erfahrun gen bestätigen kann. Wenn man unsere Entwicklung sieht, wenn man vor allem die Hilfe sieht, die bei uns der Wissenschaft zuteil wird, dann kann man doch feststel len, daß in unserer Republik der Huma nismus gepflegt wird. Was das Verhältnis zu Westdeutschland anbetrifft, so ist doch im Dokument vorge schlagen — und das ist auch vorher schon wiederholt von unserer Regierung Bonn an geboten worden — ein Minimum an kor rekten Beziehungen zu vereinbaren. Dieses Minimalprogramm ist abgelehnt worden. Bündnispartner in der westdeutschen Intelligenz Auf der anderen Seite darf man nicht verkennen, daß es in Westdeutschland eine ganze Reihe von Persönlichkeiten gibt, die zu einem solchen Minimalprogramm ja sagen. Dieser Kreis ist vielleicht noch zu klein, um sich gegen das Verhalten der Bonner Regierung auflehnen zu können. Denken wir nur an die 18 Göttinger Pro fessoren. Denken wir auch an die vielen Appelle die drüben von diesem Kreis echter .Persönlichkeiten ergangen sind. Ich habe vor wenigen Tagen mit einem Wissen schaftler aus Detmold ein Gespräch ge führt, der in unsere Republik gekommen ist. Dieser Wissenschaftler zeigte — wenn auch mit einigen Vorbehalten, die man ihm wegen noch mangelnder Kenntnisse über uns nicht übelnehmen kann —, eine echte Aufgeschlossenheit. In diesem Gespräch habe ich gesehen, welche echten Möglichkeiten es gibt, hier in bezug auf die Vermittlung von Kenntnissen über unsere Verhältnisse zu wirken und eben dieses Minimalprogramm durchzuset zen. Wir hatten im Institut für Landschafts gestaltung im vorigen Jahr einen großen Tag, und zwar anläßlich des zehnjährigen Bestehens. Es waren auch westdeutsche Wis senschaftler eingeladen. Wir hatten wäh rend der Konferenzpausen am Abend und auch anschließend während der Exkursion Gelegenheit, uns ausführlich mit ihnen auszusprechen. Auch da haben wir eine echte Aufgeschlossenheit gefunden. Es war unter anderem ein Professor aus Hanno ver da, der sagte: „Ich bin gewarnt wor den, hierher zu kommen. Aber ich komme nun mit 40 Interessenten nach Erfurt zur Internationalen Gartenbau-Ausstellung“. Damals haben sich die westdeutschen Wis senschaftler auch sehr lobend über die Ex kursion ausgesprochen, weil sie gesehen haben, daß bei uns gearbeitet wird, daß wir eine Perspektive besitzen und ein ver nünftiges Ziel haben, daß wir bei uns durch die Bedingungen, die uns von Partei und Regierung geschaffen werden, vorbildlich arbeiten können. Das, was wir hier besitzen, ist drüben oft noch zuwenig bekannt. Es wird nach meiner Auffassung darüber auch bei uns noch zuwenig berichtet. Prof. Dr. Lösche: Ich möchte an die Ausführungen an schließen. Ich kann aus vielen Gesprächen bestätigen, wie fragwürdig zum Beispiel die westdeutsche Propaganda ist. Auch ich kann nur wiederholen, daß drüben sehr viel Aufgeschlossenheit besteht. Ich bin aber auch der Meinung, daß es nicht an den Menschen allein liegt, sondern daß es die ganze Umwelt ist, die auf sie einwirkt. Dazu ein an sich nebensächliches Beispiel: Vor fünf Jahren erwartete ich den Be such eines französischen Gastes mit seiner Frau. Der Wissenschaftler arbeitete damals in der Schweiz. Die Frau des Gastes er zählte nun meiner Frau folgendes: Sie habe von einem Polizisten in der Schweiz gehört, man müsse sich bei der Volkspoli zei an unserer Staatsgrenze völlig auszie hen. Man hatte dem Ehepaar in der Schweiz geraten, sowenig wie nur möglich Gepäck mitzunehmen, um notfalls zu Fuß, sozusagen durch die Wälder, wieder in die Schweiz zurücklaufen zu können. Man kann so etwas den Gästen nicht übelnehmen, aber man muß doch feststel len, daß diese Menschen durch die Um welteinflüsse so beeinflußt sind. Das Ehe paar war kurze Zeit hier, und wir konn ten bei ihm eine große Aufgeschlossenheit feststellen. Ja, man kann sagen, es entwik- kelte sich in der kurzen Zeit geradezu ein freundschaftliches Verhältnis. Und das hat dann auch weitere Auswirkungen gehabt. Das zeigte sich im vergangenen Jahr, als wir wiederum Besuch hatten. Da war es schon ganz anders. . Die zweite Sache, zu der ich etwas sagen möchte, ist die, was uns der Krieg — in diesem Falle mir — genommen hat. Ich muß sagen, daß ich die Erlebnisse nicht gehabt habe, nicht durchzumachen brauchte, wie sie Kollege Gentzen gehabt hat. Ich habe das Jahr 1933 als zwölfjähriger Junge erlebt. Aber ich kann mich noch an die letzte Reichspräsidentenwahl im Jahre 1932 erinnern. Mein Vater war Sozialdemo krat, und er sagte immer wieder: „Hitler oder Hindenburg bedeuten Krieg.“ Die ganze Atmosphäre habe ich damals er lebt. Was mein Vater und seine Freunde damals gesagt haben, ist eingetreten, so daß es mich nicht überrascht hat. Man ist in den Krieg hineingeschlittert. Ich habe durch den Krieg drei Jahre in meiner wis senschaftlichen Entwicklung eingebüßt. Imperialistische Kriegs politik behindert Fort schritt der Wissenschaft Aber die Entwicklung der Naturwissen schaften, speziell die Entwicklung der Phy sik hat in Deutschland viel mehr eingebüßt. Es ist kein Geheimnis, daß auf dem Ge biete der Physik zum Beispiel Ergebnisse der Arbeit so und so verwertet werden können. Jeder Physiker ist vor die Frage gestellt: „Was mache ich mit dem, was herauskommt?“ Aber nicht nur der Physi ker, sondern auch der Historiker und alle anderen Wissenschaftler stehen vor der gleichen Frage. Nicht allein der Krieg selbst schadet der Wissenschaft: er raubt uns nicht nur die Mittel zur weiteren For schungsarbeit, sondern nimmt uns auch die Möglichkeit, persönlich auf unserem Ge biete zu wirken. Es ist doch einfach lächerlich, daß es auf dieser Erdkugel, die irgendwo im Welt raum schwebt, noch Kriege geben kann. Jeder Krieg erschwert das Vorwärtskom men der Menschheit, behindert die Men schen in ihrer ganzen Entwicklung. Den ken wir doch nur an die Weltraumflüge. Das ist nur ein Beispiel. Wenn wir dazu überlegen, daß die ganze politische Atmo sphäre auf der Welt noch so ist, daß sie die Staatsmänner zur Geheimhaltung von Ergebnissen der Wissenschaft zwingt, so kann man sich vorstellen, wie anders es sein kann, wenn diese Atmosphäre einmal bereinigt ist. So aber wird auf der ganzen Welt vieles doppelt und dreifach gemacht. Aber alle diese wissenschaftlichen Arbeiten sind mit dem Aufwand von sehr großen finanziellen und materiellen Mitteln ver bunden. Es ist doch nicht so wie bei dem Schreiben eines Briefes, da ist doch der Verlust nicht allzu groß, wenn ich ihn ein zweites Mal schreibe. Aber bei vielen wissenschaftlichen Arbeiten und ihren Er gebnissen handelt es sich um die Arbeit von Jahren und Jahrzehnten, die oft dop pelt und dreifach durchgeführt wird. Das behindert die Menschheit sehr stark. Deshalb ist es eine Konsequenz für uns alle, danach zu streben, zu einer kriegs losen Zeit zu kommen. Das ist einfach für die Menschheit schlechthin eine Notwen digkeit. Daß wir einmal zu diesem Zu stand kommen, das ist möglich, wissen schaftlich gesehen und auch aus der Menschheitsgeschichte abzuleiten. Das ist nicht anders denkbar. Prof. Dr. Mosler: Das berührt die deutsche Problematik. Wir stellen die Verständigung der beiden deutschen Staaten durch Koexistenz in den Vordergrund, das heißt nicht nur friedliche Koexistenz im Weltmaßstab, sondern na türlich auch im deutschen Maßstab, damit wir solche Verhältnisse erreichen, bei denen die beiden deutschen Staaten ihre Kräfte, ihre wissenschaftlichen, finanziellen und sonstigen Potenzen nicht für Kriegszwecke auszugeben brauchen.