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„Gräfin Polanco wird nicht kommen. Sie fürchtet bei dem rauhen Winterwetter für ihre Stimme." Die Nachricht, daß Gräfin Polanco, der Saison stern vom Leipziger alten Theater, abgesagt habe, verbreitete sich schnell an der Tafel und erregte all gemeines Bedauern, da man sich von ihrem Gastspiel viel versprochen hatte. Der junge Neumann schien ganz untröstlich. „Aber die Theaterkommission hatte doch ihre feste Zusage," fragte mau den Bürgermeister, welcher Vor sitzender war. Dieser lachte. „Theatervolk!" meinte er verächtlich. „Aber, Herr Bürgermeister!" „Jst's denn nicht so, meine Gnädige?" Frau Neumann wandte sich empört ab. Bald darauf wurde die Tafel aufgehoben, und die Netteren unter den Geladenen verteilten sich gruppenweise in die einzelnen Zimmer, wo die Spieltische bereit standen. Das junge Volk bildete einen bunten Kreis um einen Klavier virtuosen mit irgend einem exotischen Namen, den ein Zufall in die Gesellschaft geschneit hatte, und nötigte ihn ans Instrument. Der Bürgermeister ergriff den Millionär beim Arm und führte ihn durch die erleuchteten, von einer durcheinanderwirbelnden, schwatzenden und lachenden Menge erfüllten Zimmer in ein abseits gelegenes, schwach erhelltes Gemach, in dem für die Dauer des Gesellschaftsabends überflüssige Möbelstücke Platz gefunden hatten. Nachdem sie sich niedergelassen hatten, klingelte der Bürgermeister dem Diener. „Sagen Sie keiner Seele wo wir sind," befahl er. „Was trinken wir Neumann? Ihnen ist's gleich? Nun, bringen Sie Bordeaux." Der Diener entfernte sich geräuschlos. Sie saßen schon eine Weile bei den gefüllten Gläsern, doch keiner sprach ein Wort. Plötzlich fuhr der Bürgermeister schaudernd empor, blickte starr wie traumbefangen auf den Millionär und mahnte dann schwer aufatmend: „Trinken Sie doch, Neumann!" Johann Wilhelm nippte am Glase. „Was ist Ihnen, Herr Bürgermeister?" fragte er. „Sie kommen mir heute Abend so seltsam vor —." „Es ist heiliger Abend. Die Erinnerungen, Neu mann, die Erinnerungen!" — Morgen ist nun wieder Weihnachten. Da wird es einem so seltsam ums Herz. Man sieht auf einmal wieder anders ins Leben, gerade so wie in seliger Kinderzeit. Neumann, anch wir waren einmal unschuldige Kinder, und jetzt — o Gott, o Gott —," seine Stimme brach; Träne auf Träne perlte in den weißen, wohlgepflegten Bart. „Ich habe mich auch schon den ganzen Abend hin- mann. „Wozu aber? Es kommt ja doch nichts dabei heraus." „Das mag so sein," nickte der Bürgermeister. „Und dennoch — Neumann, ständen wir nochmals mit reinem Gewissen vor dem ersten Geschäft, das uns zu Schurken machte!" Neumann zuckte zusammen und schwieg. „Wissen Sie, mir schießt so oft durch deu Sinn," fuhr der Bürgermeister fort, „den ganzen Kram, der mich hier beschwert, zurückzulassen und abzureisen nach Amerika, nach Australien — irgendwo hin, mir dort mit meiner Hände Arbeit mein ehrliches Auskommen und einen traumlosen Schlaf zu erringen —." „Phantasien, lieber Bürgermeister. Ja, wenn sich das verwirklichen ließe! Es ist ein schöner Traum, so viel gebe ich zu. Wir haben alle Beide aber nicht mehr die Kraft, uns wieder auf deu rechten Weg emporzuschwiugen." Johann Wilhelms Stimme klang todtraurig bei diesen Worten. Der Bürgermeister war ganz außer Fassung. Er hatte die Ellbogen auf die Kniee gestützt und das Gesicht in den Händen vergraben. „Neumann, Neu mann," stöhnte er aus tiefer Brust, „was ist denn unser Leben! Was haben wir davon? Nichts! Wenn ich Sie doch niemals kennen gelernt hätte! Früher war ich in meiner Stellung so leidlich zufrieden; dann kamen Sie — Ihre Erfolge. Ihre Millionen blendeten mich. Warum nur haben Sie mir den unseligen Vorschlag gemacht, mich Ihnen anzuschließen? War um? War es nicht genug, daß Sie Ihre Ehre dem Mammon geopfert hatten? Wollten Sie Gesellschaft in Ihrer Schande, daß Sie mich in einem schwachen Augenblick verführten?" Johann Wilhelm war unter der Flut der Vor würfe leichenblaß geworden. Heute zum ersten Male sprach der Bürgermeister so zu ihm. Er war dem Genossen seiner Schuld sehr zugetan und mit der Zeit in ein herzliches Verhältnis zu ihm getreten, das er stets angenehmer empfunden hatte, je mehr er seiner Familie entfremdet wurde. Eine schreckliche Angst kam über ihn, der Bürgermeister werde sich von ihm losmachen. Er ergriff die schlaff herabhängende Hand des Bürgermeisters und hielt sie fest. „Franz!" rief er schmerzlich, „Franz, willst Du mich von Dir stoßen? Alles, alles, nur das nicht. Franz, ich bin ein ein samer Mann. Meine Frau und mein Sohn sind mir zu Fremden geworden. Niemand kennt mich näher außer Dir. Sieh, ich weiß, daß ich verantwortlich bin für dasjenige, wozu ich Dich gebracht habe. Wenn ich's ungeschehen machen könnte, mein Leben gäb' ich drum. Verzeih' mir, verzeih' mir!" Seine Stimme brach. Der Bürgermeister entzog Johann Wilhelm seine Hand nicht. „Wir müssen unser Geschick tragen," sagte er einfach. „Ich bin auch einsam, meine Frau ist ja nun auch schon fünf Jahre tot. Ich bitte Dich, fasse meine Worte von vorhin nicht zu schroff auf; ich war erregt, überreizt. Ich denke nicht daran, Dich fallen zu lassen. Solche Befürchtungen sind unsinnig. — Apropos, es war da vorhin von Deinem Sohne die Rede. Er soll mit der Gräfin Polanco befreundet sein und allenthalben beteuern, er werde sie heiraten. Ich würde au Deiner Stelle beizeiten Vorbeugen; eine solche Heirat wäre nicht nach meinem Geschmack. Aller dings erfreut sich die Polanco trotz ihres extravaganten Wesens eines vorzüglichen Rufes. Sieh Du nur gleich genau zu; Deine Fran beschützt die Neigung Deines Sohnes, fördert sie vielleicht sogar." „Es ist gut, daß Du mich aufmerksam gemacht hast," dankte Neumann. „Ich werde sehen was zu machen ist." Er wußte jetzt, warum sein Sohn so unerwartet hergereist war, und empfand eine grimmige Freude beim Gedanken an die Enttäuschung, die ihm das soeben eingetroffene Telegramm bereitet haben mußte. Sie waren mittlerweile aüfgestanden und langsamen Schrittes der Tür zugegangen. Das grellere Licht und der lustige Lärm der Gesellschaft erfüllte sie mit Unbehagen; sie blieben noch zögernd unter der Tür stehen, allein man hatte sie schon erblickt und kam von allen Seiten mit Vorwürfen über das lange Ausbleiben herangestürmt. Im nächsten Augenblick war der Bürgermeister sowohl wie der Millionär im lärmenden Schwarm verschwunden. Das Fest nahm seinen Fortgang; es wurde Kaffee serviert, und man begann zu tanzen. Es ging schon gegen Morgen, als Neumann heim fuhr. Ihm gegenüber saß Frau Marie und drückte gähnend den Kopf in die Wageukiffen. Hans schnarchte in der anderen Ecke. Neumann verspürte keinen Schlaf. Seine Gedanken weilten noch bei dem Gespräch, das er mit dem Bürgermeister geführt hatte; er fühlte sich elend und lebensmüde. Der Wagen hielt; sie waren daheim. Es dauerte ein wenig, bis die Haustür geöffnet war, und Johann Wilhelm machte mittlerweile ein paar Schritte über die Straße. Es hatte aufgehört zu schneien und der stärker werdende Frost ließ den Schnee unter seinen Füßen knirschen. In wunderbarem Glanze funkelten die Sterne am tiefdunklen Himmelsgewölbe. —Eidlich öffnete Nina, die alte, treue DiMm^ie Moninoe^MMl?M!!M?war^M mann die erste Million errungen hatte. Sie war im höchsten Staat; ihr schwarzes Seidenkleid knisterte und rauschte. Auf den welken Lippen schwebten die letzten Töne eines schlichten Weihnachtsliedes. „Wohin soll's, Nina?" fragte Neumann freundlich. „Ei, in die heilige Christmette, gnädiger Herr. O, es ist immer so feierlich — das Herz geht einem auf." „Wo bleibst Du, Jean?" rief Frau Marie mit scharfer Stimme schon aus der Tiefe des Flurs. Auch der junge Herr brummte einige Worte, die draußen unverständlich blieben. „Schlaft gut," gab Johann Wilhelm zurück. „Ich gehe zur Mette." „Wie's beliebt „Wir gehen zusammen, Nina." Freudezitternd wartete die gute Alte. „Oder vielmehr der August kann uns fahren," meinte Neumann. „Nein, nein, nicht doch!" bat Nina dagegen. „Der August ist zu müde. Er hat ja die ganze Nacht beim Wagen warten müssen." August fuhr beim Klang der Stimmen aus seinem Halbschlummer empor und überschaute die Sachlage mit einem Blick, mochte auch wohl die Worte Niuas vernommen haben. „Wie, ich zu müde, Nina?" lachte er stolz. „Du bist albern. Ich zu müde, um den gnädigen Herrn in die Christmette zu fahren? So was lebt ja nicht —." Er kletterte vom Kutscherbock und hals beiden beim Einsteigen; als er sich wieder auf seinen Sitz begab, wankte er vor Müdigkeit. Allein nicht um alles in der Welt hätte der brave, gläubige Bursche das Vergnügen entbehren mögen, jetzt seinen Herrn zu fahren, der ein Millionär war, die Nacht in Gesellschaft durchwacht hatte und es dennoch vorzog, die heilige Christmette zu besuchen, anstatt sich in sein gemütliches Schlafgemach zu begeben. — Und in schneller Fahrt lenkte er den Wagen durch die eingeschneiten Felder, den schlummernden Häuser zeilen der Stadt zu, wo gerade die Glocken begannen, die Gläubigen zur Mette zu rufen. IV. Der Strom der festlichen Menge, welcher aus dem Hauptportal des Münsters sich ergoß, begann spärlicher zu fließen und näherte sich seinem Ende. Mit deu letzten Andächtigen gelangte Johann Wilhelm auf den Kirchplatz. Da er den Kutscher vorhin gleich heim geschickt hatte, mußte er jetzt den Rückweg zu Fuß zurücklegen. Er hüllte sich fester in seinen Pelz und schritt wacker aus, so daß er die langsam Wandernden bald überholt hatte und sich allein in den bei der sehr frühen Stunde noch menschenleeren Straßen befand, wie er es liebte, wenn er sich abgespannt fühlte. Die Straßenzeile, welche ihn seinem Heim zuführte, zog sich in ziemlich östlicher Richtung. Man sah die Häuserzeilen links und rechts in schnurgerader Flucht sich verlaufen. Zwischen ihnen hindurch glänzten die ersten Strahlen des Frührots und breiteten einen zarten, rosenfarbenen Hauch über den Schnee, der all mählich fo intensiv wurde, daß die im Schatten liegen den Schneeflächen blauschwarz wurden. Noch war es in den Häusern nicht lebendig ge worden; nur bei dem Krämer au der . Ecke war das Wohnstubenfenster neben dem kleinen Laden erhellt. Durch die unverhüllten Scheiben schimmerten die Kerzen eines Weihnachtsbaumes; klar drangen die schrillen, dünnen Stimmchen der Kinder durch die Morgenstille, die drinnen den Baum umstanden. Sie sangen das Lied, das auch vorhin in der Kirche gesungen worden war. „Wie trostreich ist uns Adamskindern Der Tag, der uns das Heil gebracht, Der aus verlass'nen armen Sündern Zu Kindern Gottes uns gemacht! Wir lagen in den schwersten Ketten, In alter Sünden Sklaverei; Und Gottes Sohn kommt, uns zu retten, Und macht uns alle wieder frei." Auch jetzt wieder empfand Johann Wilhelm den Widerspruch zwischen den zuversichtlichen, freudigen Wortm des schlichten Liedes und seinem Seelenzustande. Auch für ihn war das Heil bereitet, aber er konnte es nicht ergreifen, da ihn noch die schweren Ketten alter Sünden gefesselt hielten. Es fehlte ihm eben Wille und Kraft, jene schmählichen Bande zu sprengen, und hiermit war er in seinen Gedanken wieder so weit wie bei deni letzten erregten Gespräch mit dem Bürger meister. Johann Wilhelm lachte bitter auf. Was half alles Grübeln, alles Kopfzermartern, alle Seelen pein? Wie innig hatte er soeben noch im Münster beten können! Er hatte sogar sein Leid vergessen, das ihm nunmehr wieder im Herzen wühlte. Nein, er wollte nur noch zu vergessen suchen und weiter sein Leben im gleichen Gang verschleißen. Den gleichen Rat würde er auch bei der nächsten Gelegenheit dem Bürgermeister geben. Er nickte wie zur Bekräftigung seines Vorsatzes energisch vor sich hin. Als er sein Zimmer betrat, legte sich eine bleierne Uhr. Bettruhe lohnte sich nicht mehr; dafür war die Zeit zu weit vorgeschritten. So tat er das, wo durch er sich in gleichen Lagen stets zu erfrischen pflegte und ließ sich ein kühles Bad bereiten. Inner halb einer halben Stunde saß er in tadelloser Toilette frisch und aufgelegt im Speisezimmer; seine Kernnatnr empfand keine Spur von Ermattung mehr. Während er auf das Frühstück wartete, fiel ihm plötzlich wieder ein, daß er am vorhergehenden Abend seine Tochter Heimberufen habe. Ein breites, freudiges Lächeln zog über sein Gesicht. Es war gut, daß er depeschiert hatte; die Weihnachtstage würden ihm dies mal nicht so trostlos öde verlaufen wie im vergangenen Jahr, daran die Rückerinnerung ihn schon schaudern machte. Nina kam mit der Frühstücksplatte, auf der ein Extratellerchen mit einer Schicht dünner Honigkuchen scheiben stand. Neumann dankte lächelnd und erfreut über die Aufmerksamkeit der alten Dienerin: „Kein Weihnachten ohne Honigkuchen," behauptete sie. „Der ist fast so notwendig wie ein Weihnachtsbaum. Und der fehlt nun ja schon lange hier im Haus." Dann, die wehmütige Miene ihres Herrn bemerkend, fügte sie bei: „Aber in der Gesindestube haben wir einen schönen Christbaum geziert. August hat so viel Nüsse vergoldet und ich habe Papierkörbchen geflochten — wenn Sie einmal herüber kommen wollten, gnädiger Herr —." „Ja, gegen Abend werde ich kommen und noch jemand mitbringen. Thilda trifft mit dem Mittags zug ein." „O ja, das Thildchen, welche Freude!" jubelte Nina, „ist's auch ganz gewiß?" „Ganz gewiß," bestätigte Johann Wilhelm lachend und machte sich mit Eifer über sein Frühstück her. Dann las er die letzten Zeitungen, rauchte eine Importe, und schon kamen die ersten frühen Besucher, um ihm glückliche Feiertage zu wünsche». Da waren Bauern, denen er Grundstücke zu Bauzwecken abgekauft hatte, Schreinermeister, denen er Aufträge gegeben hatte, als in der Bausaison seine Werkstätten die Arbeiten nicht bewältigen konnten. Alle erhielten einen freund lichen Händedruck, durften sich eine Cigarre aus der besten Kiste nehmen und je nach Wunsch ein Glas Roten oder einen Kognak trinken. Neumann freute das offene, arglofe Wesen der einfachen Leute und zeigte viel ungezwungene Liebens würdigkeit. Er fühlte sich ganz behaglich. Hierzu trug noch bei, daß er sich gern in seinem Kontor auf-