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Musik des Nordens — Musik des Westens Blick nach Finnland — Blick nach Belgien, so könnte unser Programm genannt wer den. Ist es nicht seltsam: Finnland, das weiter von uns entfernt liegt als Belgien, ist uns musikalisch wesentlich vertrauter als Belgien. Meister wie Sibelius und Kilpinen sind mit ihren Werken laufend in unseren Konzerten vertreten. Belgische Musik dagegen ? Die meisten Flörer schütteln die Köpfe, zucken bedauernd mit den Schultern: Kennen wir nicht 1 Es ist nicht einfach, in Kürze einen Überblick zu geben, was wir unter belgischer Musik zu verstehen haben. Im 15. und 16. Jahrhundert erlebten die Niederlande eine musikalische Blütezeit ohnegleichen, wobei wir unter Niederlande Holland, Belgien und Teile Nordfrankreichs verstehen müssen. Im 17.Jahrhundert gab es noch eine verspätete Blüte der Musik, vor allem in dem nördlichen Teile der Niederlande. Dann wurde es still um diesen Kulturkreis. Es gab politische Teilungen und damit Trennungen auf musikalischem Gebiet. Da überwogen italienische Einflüsse, dort französische. Schließlich erwuchsen in Holland und Belgien zwei unterschiedliche Kulturkreise. Auch Belgien umschließt zwei unterschiedliche Kulturkreise, den flämischen und den wallonischen. Es gibt viele Bestrebungen, beide Kreise kulturell zu vereinheitlichen, doch auch Gegenbestrebungen fehlen nicht, die die nationalen Eigenarten des Flämischen und Wallonischen bewußt betonen. Die flämische Musik des 19. Jahrhunderts ließ sich stark von den deutschen Roman tikern beeinflussen, und auch dem Impressionismus zollten viele flämische Kompo nisten ihren Tribut. Selbst Anklänge an Alban Berg und Schönberg waren bei ver schiedenen flämischen Komponisten zu verzeichnen, und natürlich fehlte auch nicht eine Musik des „individuellen und typisch flämischen Stiles“, etwa bei Flor Alpaerts (geb. 1876). Der einzige Komponist, der bei uns bekannt ist und aufgeführt wird, ist Marcel Poot (geb. 1901), ein „moderner Klassizist“. Selbst Marinus De Jong, einer der bekanntesten flämischen Komponisten, wird bei uns kaum aufgeführt. Bei den Komponisten des wallonischen Kulturkreises ist eine stärkere Angleichung an Frankreich festzustellen, dennoch wurde dabei versucht, die nationalen Eigenarten zu bewahren. C&sar Franck, obwohl geborener Deutscher, wird in dieser Reihe erwähnt und Joseph Jongen und sein Bruder Leon Jongen versuchen, die Gegensätze zwischen Impressionismus und Neoklassizismus zu vereinen. Zu den bei uns noch ganz unbekannten belgisch-wallonischen Komponisten gehört Jean Absil, geboren 1893 in Peruwelz, der leider weder in den neuesten Musik geschichten noch in der Enzyklopädie „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“ erwähnt wird. Lediglich im Musiklexikon von Prof. Dr. Kurt Pahlen (Orell Füßli, Zürich 1956) finden wir den Hinweis: „Komponiert im modernen Stil.“ Karl Hein rich Wörner ergänzt den Hinweis in seinem Buch „Neue Musik in der Entscheidung“ (Schott, Mainz 1954): „Jean Absil ist der größte und universalste Komponist dieser zeitgenössischen Wallonen. Er schreibt eine spontane, aber durchgeformte Musik,