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Es ist eine bezwingende Naivität, die uns aus Prokofieffs Musik entgegenklingt, echt empfunden, kindhaft, bezaubernd in der Fülle ihrer Bilder. War es Zufall, daß Prokofieff ein solches Märchen komponierte ? Wohl kaum! Sein Freund Serge Moreux schrieb in seinem liebenswerten Beitrag „Mit den Augen des Freundes gesehen“: „Im täglichen Leben war Prokofieff ein Kind, das unaufhörlich mit seinen beiden Jungen, dem jungen Oleg und dem älteren Swiatoslaw, spielen konnte, bis seine sehr schöne und strenggesinnte Frau Lina, eine geborene Kubanerin, nach dem Rechten zu sehen pflogte.“ Aram Iljitsch Chatschaturian gehört neben Prokofieff und Schostakowitsch zu den meistaufgeführten sowjetischen Komponisten. Geboren 1904 in Tiflis, studierte er 1923—1934 in Moskau bei Gnessin, Misakowskij und Wasilenko. Von seinen Werken wurden uns nach 1945 vor allem das in aller Welt beliebte Klavier konzert (1936) bekannt, die effektvolle „Toccata“ für Klavier, das Ballett „Gajaneh“ und das 1940 entstandene Violinkonzert, für das Chatschaturian mit einem hohen Staatspreis ausgezeichnet wurde. Chatschaturians Musik wird von vielerlei Quellen gespeist: Das ist einmal die tiefe Verwurzlung mit den Traditionen der russischen Musik, die innige Verbindung zur kaukasischen und transkaukasischen Volksmusik, zu den Liedern und Tänzen Armeniens und Grusiniens. Aber auch Elemente des französischen Impressionismus werden von Chatschaturian schöpferisch verarbeitet. Die reiche Melismatik und Bevorzugung schillernder Klangkolorismen (Instrumentierung!) erinnern an orienta lische Vorbilder. Volksliedhaft einprägsam ist die Melodik der Chatschaturianschen Musik, die Freude an tänzerischer Rhythmik, farbiger Harmonik und an improvisatorisch bereicherten und ausgeschmückten Formen. Das sind zugleich die Eigenarten des Violinkonzertes, dessen erster Satz mit einem rhythmisch prägnanten Thema beginnt, das bald von einer schön sich entfaltenden Liedweise kontrastiert wird. Aus dem Miteinander und Gegeneinander figurativor Floskeln und ausschwingender Melodik entwickelt sich der musikantisch bewegte Ablauf dos ersten Satzes, in dem eine ausgedehnte Kadenz dom Solisten alle erdenklichen Möglichkeiten bietet, sein brillantes Können zu beweisen. Der zweite Satz erinnert uns an ein verhalten beginnendes, von Sehnsucht erfülltes Abschiedslied, das von der Sologeige mit ergreifendem Ausdruck gesungen wird, gegen Schluß sich steigernd zu schmerzlich aufbäumenden Ausbrüchen. Mit reißend in seiner tänzerischen Vitalität erklingt das Finale: Ein prachtvolles Stück pulsierenden Lebens, typisch für die Bestrebungen der sowjetischen Musik, alle Menschen anzusprechen. Die zehn SinfonienDimitri Schostakowitschs bilden innerhalb der zeitgenös sischen Sinfonik einen gewaltigen Block, den kein Mensch negieren oder übersehen kann, ganz gleich, welchen Glauben er vertritt oder welcher politischen Richtung er angehört. Schostakowitsch ist einer der wenigen Meister unserer Gegenwartsmusik, der mit seiner Musik alle politischen Dissonanzen und weltanschaulichen Span nungen überstrahlt: Er gehört in den Vereinigten Staaten zu den beliebtesten und meistaufgeführten Komponisten. Daß er sich in seinem Vaterland größter Wert schätzung erfreut, bedarf nur einer ergänzenden Erwähnung. Schostakowitsch gehört der ganzen Welt! Die 6. Sinfonie entstand 1939. Sie erregte Bewunderung und Ablehnung, doch die Kraft der Erfindung, die Stärke der Aussage und nicht zuletzt die musikalische Substanz überzeugten im Laufe der Jahre auch die hartnäckigsten Skeptiker. Durch mehrmaliges Hören mußten sie erfahren, daß die „Sechste“ eine organische Weiter führung der umjubelten „Fünften“ bedeutete, beide waren Meisterwerke, wenn auch in Inhalt, Form und Aussage auf verschiedenen Ebenen bebeimatet. Schosta kowitschs 6. Sinfonie bewies wieder einmal, daß der Wert eines Kunstwerkes nicht allein darin liegt, daß es beim erstmaligen Hören von jedem Menschen (gleich