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mit den Augen verfolgen will, mögen uns die Worte des Meisters selbst einen Hinweis geben. Er sagt: „Im ersten Satz ist der Trompeten- und Cornisatz aus dem Rhythmus des Thema: Die Todesverkündigung, die immer sporadisch stärker, endlich sehr stark auftritt, am Schluß: die Ergebung.“ Wir wissen aus diesem und aus anderen Fällen, daß Bruckners Äußerungen aus einer genialen Naivität heraus gesagt wurden, wie er, der so kühn neue Formgesetze der Sinfonie aufstellte, auch ein völlig naiv Schaffender war. Deshalb wird man seine Worte noch weniger verbindlich auffassen dürfen als die anderer, bewußter schaffender Komponisten, die etwas über ihre Werke ausgesagt haben. Aber es sind wertvolle Hin weise, die wir nicht hochmütig von uns schieben wollen. So, wenn Bruckner von dem nun folgenden Scherzo sagt, sein Thema stelle den „deutschen Michel“ dar. Dieses Thema hat schon etwas von dem starken, eigenwilligen, wenn man will, von dem eigensinnigen, von dem eigenbrötlerischen Charakter des Deutschen an sich. Ein Stampf- und Kampfmotiv, zu dem die Hörner mit scharfen Akzenten zuvor aufrufen. Wichtig für den musikalischen Aufbau des Satzes auch die über diesem Hauptthema hinschwirrende, immer sich wiederholende (eine sogenannte ostinate) Streicherfigur. Wenn am Schluß des in Sonatenhauptsatzform durchgeführten Scherzo-Hauptteils dann das Hauptthema in strahlendem C-Dur erscheint, dann mag man an den leuch tenden Erzengel, an St. Michael denken, dessen Bild einst die deutschen Fahnen im Kampf gegen den Osten schmückte, an jenen Heiligen, den auch die deutsche bildende Kunst (Dürers „Apokalypse“!) Verherrlicht hat. Dem nun folgenden melodieseligen Trio in As-Dur hat Bruckner selbst die Überschrift gegeben: „Der deutsche Michel liegt behaglich ausgestreckt auf einem Berg und träumt ins Land.“ Es müssen schöne Gedanken sein, die mit den Wolken um die Wette ins Land fliegen, in die Heimat, in die Ferne, die der Deutsche beide so glühend liebt. Heimweh und Fernsehnsucht — das ist der Inhalt dieses herrlichen Trios. Das Adagio ist einer der feierlichsten, großartigsten und schlechthin schönsten langsamen Sätze, die je geschrieben wurden. Sein Themenmaterial ist ein vierfaches. Im ersten Thema wächst die melodische Linie geheimnisvoll aus dem schöpferischen Ur grund der Harmonie (Des-Dur-Dreiklang), aus bangen Seufzern ausbrechend in Schmer- zensrufe (absteigende Tonleiter). Die Umkehrung dieses Motives, gewaltig in die Höhe drängend, bildet die Überleitung zum zweiten Thema, das als Choralthema himmlischen Trost verkündet, herrlichen Trost, wie der hymnische Aufschwung zeigt, auf dessen Höhepunkt die Harfe (sie ist im Brucknerschen Orchester ganz ungewöhnlich und hat hier um so deutlichere Funktion) die himmlische Lichtfülle darzustellen scheint. Das dritte, das Gesangsthema, ist in seiner weitgeschwungenen Melodie dem Cello an vertraut, das vierte und Zentralthema ist ein feierlicher Tubensatz, von dem man gesagt hat, er sei vielleicht der innerste Kern des gesamten Brucknerschen Schaffens. Dieser ersten Strophe des herrlichen Liedes folgen zwei weitere, in denen das Themenmaterial verändert, variiert wird. Eine ergreifende Koda bildet den zarten, langsam ins Schweigen zurücksinkenden Ausklang. (Man beachte, wie vielsagend unter den Händen des Genies die einfache absteigende Tonleiter werden kann!) Über das Finale sagte Bruckner: „Unser Kaiser bekam damals den Besuch des Zaren in Olmütz; daher Streicher: Ritt der Kosaken; Blech: Militärmusik; Trompeten: Fanfaren, wie sich die Majestäten begegnen“. Damit ist zwar nicht der Inhalt angegeben, aber doch der Phantasie die Richtung gewiesen. So verstehen wir die Themen: über einem ostinaten Begleitmotiv, das den Ritt-Rhythmus gibt, erhebt sich pompös und majestätisch das erste Hauptthema. Das zweite läßt sich weniger leicht auf den an gegebenen Inhalt beziehen, es bildet als echtes Gesangsthema mit Choralanklängen den notwendigen Gegensatz zum ersten. Das dritte dagegen, mit seinem schreitenden Rhyth mus in den Streichern („nicht gebunden“ verlangt die Originalfassung), rückt wieder in den angegebenen Gesichtskreis. Die kunstvolle Verarbeitung in der Durchführung, die nochmalige Bestätigung in der Reprise werden gekrönt von einer Koda, die zur ge waltigsten sinfonischen Tat, die je gewagt wurde, führt: am Schluß erscheinen die Hauptthemen aller vier Sätze ineinander, zusammengezwungen von einem musikalischen Baumeister, der die Riesenkräfte eines Michelangelo besaß. Dr. Karl Laux. M/0252