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willigen Akkordfolgen, die bis dahin in den Lehrbüchern verboten waren, die schwebend-schwere lose, durchsichtige Führung der melodischen Linien und die fast orchestrale Farbigkeit erzeugende Behandlung der Streichinstrumente nicht sogleich verstanden wurden. Doch bereits in den fol genden Jahren fand das Werk seine Anerkennung und genießt seitdem uneingeschränkte Bewunderung als das erste Meisterwerk Debussys und als eine der beglückcndsten Quartett schöpfungen überhaupt. Mühevoll freilich war der Schaffensprozeß gewesen, schrieb doch der Komponist seinem Freunde Ernest Chausson: „Ich erreiche nicht das, was ich möchte, und fange ■dreimal von vorne an . . .“ Als das Quartett schließlich vollendet vorlag, hatte Debussy damit ein einzigartiges Zeugnis seines strengen kammermusikalischen Formwillens geschaffen. Durchaus klassisch ist die vierteilige Satzanlage. Aus einem dreitönigen „Urmotiv“ (G—F—D), das den Kopf des Hauptthemas im ersten Satz darstellt, wird das gesamte thematische Material des Werkes entwickelt. Durch diese Ökonomie der Mittel erhält die Komposition eine große gedankliche Einheit, wie andererseits die Beschränkung auf einen thematischen Kern den Komponisten zur Entfaltung seiner Variationskunst veranlaßte. Lebhaft und sehr bestimmt leitet das energische Hauptthema mit dem „Urmotiv“ das Werk ein. Ein mehr lyrisch-besinnliches Seitenthema schafft den Themenkontrast für diesen Sonatensatz, in dem auch noch andere Motivfloskeln zeitweilig Bedeutung gewinnen, wie sich denn hier das klassische Formprinzip mit dem Reihungscharakter der Phantasie überschneidet. Rondoform besitzt das spielerische Scherzo, das ziemlich lebhaft und streng rhythmisch vorzutragen ist. Eine scherzohaftc Abwandlung hat das „Urmotiv“ hier er fahren. Die Verwendung der Pizzikatos (mit dem Finger gezupfte statt mit dem Bogen gestrichene Stellen) bringt einen Serenadenhaften Ton in das Ganze. Das sanft ausdrucksvolle Andantino weist eine feinnervige, aus dem Kerngedanken abgeleitete Melodik auf. Die innige Gefühlswelt dieses Satzes wird durch die aparte klangliche Nuancierung der häufig angewandten „Dämpfer“ betont. An den energischen Charakter des ersten Satzes knüpft unmittelbar das Finale mit seinem vielfältigen Tempo- und Rhythmuswechsel an. Wieder beruht das musikalische Geschehen auf dem Anfangsmotiv, dazu erinnert der Komponist an Themen aus den vorangegangenen Sätzen, die nun allerdings rhythmisch und harmonisch verändert sind. Das „Urmotiv“ krönt den Schluß des Quartetts. Francis Poulenc, zu den führenden zeitgenössischen Komponisten Frankreichs gehörend, wurde mit 15 Jahren Lieblingsschüler des spanischen Pianisten Ricardo Vines, der ihn mit Eric Satie und Georges Auric bekannt machte, zwei Musiker, die auf seine künstlerische Entwicklung größten Einfluß gewannen. 1917 gelangte in Paris in einem avantgardistischen Konzert der Sängerin Jane Bathori sein erstes Werk, die Rhapsodie negre für Singstimme, Streicher, Klavier,j Flöte und Klarinette, zur Uraufführung. Nach dem ersten Weltkrieg trat Poulenc der „Groupe" des Six“ bei. Mit Darius Milhaud, der als einer der ersten seine außerordentliche Begabung er kannte, reiste er durch Europa und traf in Österreich mit Alban Berg, Anton von Webern und Arnold Schönberg zusammen. Milhaud sagte nach Kenntnis einiger Frühwerkc von Poulenc: „Nach all den impressionistischen Nebeln diese einfache, klare Kunst, die an die Tradition von Mozart und Scarlatti anknüpft - wird sie nicht die nächste Phase unserer Musik sein?“ Der Komponist, der vor allem mit Liedern und Klavierwerken - er ist selbst ein ausgezeichneter Pianist - schnell bekannt wurde, wandte sich frühzeitig dem Theater zu, zunächst dem Ballett und in den vierziger Jahren - mit der Opera buffa „Les Mamclles de Tiresias“ - der Gattung der Oper, die er 1957 um einen Welterfolg bereicherte: mit „Les Dialogues des Carmelites“ nach Georges Bernanos. Das Kriegsgeschehen und Dichtungen von Eluard hatten ihn 1943 zu einer Kantate, „Figure Humaine“, veranlaßt. 1958 schrieb er nach Jean Cocteau, mit dem er auch neuerdings eng zusammenarbeitete, die einaktige tragedie lyrique „La voix humaine“. In seinem Gesamtschaffen nimmt auch die Kirchenmusik einen wesentlichen Platz ein. Das alles bestätigt die Ansicht Claude Rostands: „Es ist nicht die pianistische Produktion, in der Poulenc sein Bestes gegeben hat. Dies verdient hervorgehoben zu werden, ohne daß man deswegen einer übermäßigen Strenge bezichtigt werden kann. Es sei daran erinnert, daß man ihn von seinen Vokalwerken aus, den Chören und Liedern, beurteilen muß, um sicher zu sein, die tiefere und ganze Bedeutung seiner Kunst nicht verkannt zu haben. Das pianistische Schaffen zeigt uns einen zu ausschließlich ,charmanten 4 Poulenc, wo doch dieses bemerkenswerte Musikertemperament noch zu anderem berufen ist als zum Gefälligen.“ Darauf sei hier hingewiesen, weil der „gefällige“ Poulenc nur die eine Seite dieser Persönlich keit ist, an die man sich bisher bei uns vor allem gehalten hat und die auch aus dem heute abend erklingenden Werk des Franzosen zu uns spricht. Das zwischen 1932 und 1939 geschrie bene Sextett für Klavier, Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott und Horn spiegelt die ganze stilistische Entwicklung wider, die der Komponist durchlaufen hat. Deutlich ist im Klanglichen die Her kunft vom Impressionismus spürbar, zugleich zeigt das Werk Spuren jener Hinwendung zur Zirkus- und Ballettmusik, die er in den zwanziger Jahren vollzog, und schließlich waltet darin die klassizistische Formgesinnung, die das Hauptmerkmal seiner künstlerischen „Haltung“ ist. In der Nachfolge Faures, Debussys und Ravels bemüht sich Poulenc um die Bereicherung des me lodischen Elements der französischen Musik. Die Melodie triumphiert denn auch in diesem ent zückenden Kammermusikwerk über die mannigfaltigen Reize des Rhythmischen, ja bestimmt Ausdruck und Form der Komposition. Die abwechslungsreichen thematischen Gedanken der drei lecker gefügten, übersichtlichen Sätze sind gekennzeichnet durch Frische der Erfindung, durch ihre geistreich-ironische Unterhaltsamkeit und nicht zuletzt durch die Unbekümmertheit, mit der scheinbare „Gassenhauermelodien“ verschmolzen werden. „Bei Francis Poulenc, dem Bewun derer Chopins und Debussys, vermählt sich das Flelle und Klare mit dem Sensiblen; vom Moto rischen beflügelte Spielfreude schließt die ,douce melancolie' nicht aus“, sagte einmal Armand Hicbncr. Neben der Vorherrschaft des Melodischen bestimmt aber auch die Freude des Kompo nisten am Klang, an anmutig-maßvollen, sinnlichen Klängen den Charakter des Sextetts, in welchem dem Klavier eine brillante Aufgabe zugewiesen ist, namentlich in dem mehrgliedrigen ersten Satz (Allegro vivace). Dreiteilig ist der knappe Mittelsatz angelegt, ein Divertissement- Andantino, d. h. eine musikalische Unterhaltung. Episodenreich-kurzweilig zeigt sich das Finale (Prestissimo). „Es ist das ewig französisch Klassische, das in den Klängen der Musik“ Poulencs weiterlebt (Fliebner). D./U. Hartwig LITERATURHINWEISE: Job. Fr. Fasch, in „Die Musik in Geschichte und Gegen wart“. Bd. 3, Kassel 1955 Petzoldt: G. Ph. Telemann — Ein Musiker aus Magdeburg Strobel: C. Debussy (Zürich 1940) Poulenc, in „Neue Musik in der Entscheidung“ (Mainz 1954)