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27» Mittwoch, den 15. April. 1857* Redlgirt unv verlegt von C. M. Gänner in Schneeberg und Schwarzenberg. Liebe und Treue bis zum Grabe. (Fortsetzung.) Mitternacht war längst vorüber; der Arzt mahnte, der ermatteten Natur einige Ruhe zu gönnen und beim Anbruch des Morgens über Bleiben und Mitrciien zu sprechen. Der - Offizier ging noch einmal, nach den Gefangenen und Wachen zu sehen. Seraphim und der Pole legten fich aus ihre Lager, worauf sie bald ein sanfter Schlaf erstärkte. Leise trat der Offizier wieder ein, und da er die Macht des Schlafes über die neuen Freunde gewahrte, zog er aus seinem Unisormober- rock eine Brieftasche und nahm aus derselben eins von zweien - kleinen Bilder», stellte sich zur Leuchte und betrachtete es scharf, ergriff dann die Leuchte, und sah beim scharfen Schein genau in das Angesicht des fest schlafenden Polen. „ES ist kein Zweifel mebr, er ist cP, Zug um Zug, nur an Jahren etwas jünger." DaS Bild wehmüthig betrachtend rief er dann aus: .'Unglücklicher Vater! wozu hat Dein Ver. gehen mich verdammt! Deine Sünde wird an mir beimge- sucht, und ich muß den eigenen Bruder in das verzweifelnde Elend bringen. — Muß ich? wie, wenn ich ihn entfliehen ließe? — Doch wohin? in den sichern Tod oder in die Berg werke? — nein; noch lebt die Hoffnung in mir auf des Kaisers Gnade. Ja, so sei es!" Hierauf legte er sich neben den beiden Freunden nieder, das Bild aber ließ er auf dem Tuche liegen. Sanft wiegte ihn ein reines Herz, ein gutes Gewissen in den Schlaf, und machte ihm das harte Lager zum weichen Bette. Ueber allen wachte die Nemesis, die ernste Tochter der Nacht, welche die verborgenen Frevel enthüllt, den Ucbermuth, den Stolz mit gewaltiger Hand zügelt; nach Verdienst und Werth bestraft und belohnt. Im Freien wüthete orkanmäßig der Sturm des Nordens; das im Stalle geborgene Rind brüllte vor Kälte; die hungrigen Wölfe durchliefen heulend die Höfe und suchten nach Beute. Schien es dock, als ob der grimmige tyrannische Winter mit seiner gigantischen Kälte das Unglück der Ver bannten noch schrecklicher machen, oder durch baldiges Ersrie- ren erleichtern wollte. Längst war der Morgen angebrochen,' 'aber der mit grauem Gewölk umzogene Himmel ließ keinen 'Strahl der Sonne durchdringen; matt und ohne Wärme war -ihre weiße Scheibe; die freudenleere Natur lag da, wie ein Gerippe, da--vom weißen Leichentuch bedeckt ist. Ein dis über die Ohren im Pelze steckender, aber dennoch halb er starrter Kosack, dessen struppiger Bart mit Eiszapfen geziert war, trat ein und meldete, daß Alles zur WeitertranSporti- rung fertig sei. Der Offizier befahl, noch eine Stunde die Pferde in den Ställen zu lassen. Seraphim wirkte bei dem Offizier für alle Unglückliche die Erlaubniß aus, ihnen wärmende, stärkende Suppen berei ten lassen zu dürfen und ging selber die Besorgung zu leiten. AlexiS, ein Crucifix auS seiner Brustbekleidung nehmend, be- tete. Desgleichen that der Offizier. Beide- näherten sich hieraus, und reichten sich die Hände. Dabei fiel Elexis Blick auf das auf dem Tische liegende Bild; der Pfeil fliegt nicht ffo schnell von des Schützen Bogen, als er das Bild ergriff. Bald diese-, bald den Offizier fragend anstarrend, vermochte er kaum Worte zu finden, fich über da-Gefundene Auftlärüflg zu verschaffen. Zu edel, zu menschlich, zu brüderlich fühlend war deyOffizier, als daß er eine Geschichte hier hätte erzählen sollen, wie er zu dem Bilde kam. Die Arme ausbrettend, in den Augen die Thränen der Liebe habend, rief er auS: „Bruder Alexis! komm an das Herz Deine-Bruder-Michael!" Mit diesen Worten stürzte er auf Alexi- zu und schloß ihn innig an sein warm und froh schlagendes Herz. Seraphim- Eintreten brachte erst wieder Leben in di« sestverschlungene sprachlose Gruppe. Erstaunen und Freude empfand dieser Seelen- und Körperarzt, als er den Zusam menhang vernahm. Und als er von Michael hörte, daß Jo nathan für seinen Pflegling Alexis bet der gräflich Gapelov-- ky'schen Familie viel, sehr viel ausgewirkt, da überwältigte ihn daS Gefühl, und er sank, ein gläubiger Christ, betend zur Erde, — seinem Beispiel folgten Alexis mit Michael. In Dankbarkeit und Liebe ward dem Geist des Edlen, de- Barmherzigen im Staube Verehrung gebracht. Michael erklärte nun, daß nur der Name AlexiS ihn. in seiner Vermuthung irre geleitet, die Aehnlichkeit mit hem Bilde und auch mit ihm, sei ihm vom ersten Zusammentreffen aufgefallen. „Du trägst den Namen Deiner Mutter auch nichi, MeM, somit mußte ich zweifeln." „Ich wollte den bisher fleckenlosen Namen BarzikovSka nicht entweihen, darum nannte ich mich schlechtweg Alexis;" entgegnete dieser. „Von nun an wirst Du Deinen Vaternamen tragen," sprach der Bruder zu ihm. Mit den Achwln ziehend und zu den dick beeisten Fenstern deutend, entgegnete der Verbannte: „Sieh hin! und bedenke, was mich der Name nützt in dem weiten, »nahsehbaren Schrecken-reich, dem ich entgegen- eile; der Blüthenlenz der Jugend ist vertrauert, de- Manne- kraftvoller Sommer im fanatisch blutigen Krieg vermodert; des Alters Herbst verdorrt in jener Poleunacht, wohin ich muß ; — dem bleichenden Winter meiner Jahre erscheint kein Frühlingstag; Alles in meinem Leben war ein langer eitler Traum von Größe, Ruhm und Ehre. Entsagen und Schmach ten ist mein Schicksal?' Isidora, wie der jungfräuliche Schnee so rein, trat wie ein guter Genius in das Gemach, um zu ihreni Vater zu gehen. Erschrecken und Staunen erregte ihre wahrhaft geister- ähnliche Erscheinung bet den drei Männern; im eigenen'Elende solche kindliche, barmherzige Hingebung, Aufopferung für einen Vater, dessen Maaß an Grausamkeit gegen das einzige Kind überströmte und alles Elend allein verschuldet hatte; war die Erleuchtung in der Nacht, die im Gemüthe AlexiS alle- schwärzte. Seraphim beschwor die Geliebte, sich nach ihrem Gemach und Bett zu begebe», indem ihre Schwäche der Ruhe nöthig habe; er schwur ihr, daß soviel wie möglich de-Vaters Elend erleichtert werben würde, und zeigte ihr sogar einen Strahl von Hoffnung zur Freiheit aus Sibirien für ihren Vater. Doch blieben bei dem kranken Mädchen, dessen Geist eine be wundernswürdige Kraft, Ruhe und Größe hatte, all« B«r»