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Reise-Eindrücke aus Amerika.* Von Carl Wittgenstein, Centraldirector der Prager Eisenindustrie-Gesellschaft. GGO Von den 55 Millionen Einwohnern, welche heute die Vereinigten Staaten zählen, gehen etwa 18 Millionen einem Erwerbe nach, und zwar ungefähr 11 Millionen im Ackerbau, 3 Millionen in der Industrie, ebensoviel im Handel und eine Million in diversen Beschäftigungen. Wenn man die Behauptung aufstellt, dafs die durch schnittliche Intelligenz des amerikanischen Arbeiters gröfser ist als bei uns, so gilt das ganz besonders von jenem Theile der Bevölkerung, dessen Aufgabe es ist, den Boden zu bebauen, und bei jenen Arbeitern, welche mehr Handlangerdienste verrichten und weniger einem Gewerbe angehören. Unser Maschinenschlosser, im grofsen und ganzen überhaupt unser Fabrikarbeiter, Eisenbahn-Conducteur, Gärtner, Kutscher u. s. w. halten den Vergleich mit derselben Kategorie in Amerika mehr oder weniger gut aus, nicht so der Taglöhner und der Bauer — wobei man gar nicht an Galizien denken mufs. Man braucht nicht Fachmann in der Land- wirthschaft zu sein, um behaupten zu dürfen, dafs der amerikanische Ackerbauer mit dem dritten Theile der Handarbeit bei gleich gutem Boden und unter übrigens gleichen Umständen dasselbe Resultat erzielt, wie der österreichische Bauer. Um ein Bild von der An wendung der Maschinen beim Ackerbau zu geben, genügt es, zu sagen, dafs in Chicago eine Fabrik besteht, welche in einem Jahre allein 80000 Ge treidemaschinen erzeugt, Maschinen, die nicht nur das Getreide schneiden, sondern dasselbe auch in Garben reihen und mit einer Art Hanfseil binden. Man stelle sich das Mähen eines Feldes bei uns zu Lande vor. Erst wird das Getreide von Schnittern gemäht, dann werden die Halme von Weibern gesammelt und schliefslich wird die Garbe gebunden. Diese dreifache Verrichtung, welche viele Hände in Bewegung setzt, besorgt in Amerika eine Maschine, die von zwei Pferden gezogen wird und nur eines Mannes bedarf, der die Pferde lenkt. Dabei fällt es auf, wie geschickt er umgeht. Ich habe einzelne Farmer gefragt, ob sie das Schlosserhandwerk erlernt haben. Die Frage wurde stets verneint. Unserm Ackerbauer ist dagegen gar häufig selbst der Gebrauch der Feile, des Meifsels und des Schraubenschlüssels fremd. Die Tüchtigkeit des amerikanischen Farmers ist für die ökonomische Ent wicklung der Vereinigten Staaten von besonderer Wichtigkeit. Es ist nicht einerlei, ob ein Joch Feld zu seiner Bearbeitung die Kraft zweier Menschen benöthigt oder ob die Arbeit von einem Menschen geleistet und die Kraft des zweiten zurProduction andererGüter benutzt wird. Es ist nicht möglich, amerikanische Verhältnisse zu betrachten, ohne die Wirkung des Schutzzolles, der seit 25 Jahren herrscht, zu bemerken. Mit wenigen Ausnahmen unterliegen sämmtliche eingeführte Waaren, selbst Holz, einem Zollsätze von durchschnittlich 45 bis 50 Procent ihres Werthes. Die sichtbare und un mittelbare Folge der hohen Schutzzölle besteht darin, dafs der Farmer die Arbeitskraft theuer bezahlen mufs * Aus der »Neuen freien Presse«. — man bekommt einen Taglöhner nicht unter 21/2 fl„ einen Zimmermann nicht unter 5 fl., — dafs er seine Bedürfnisse, soweit sie nicht seine Nahrung betreffen, zu weit höheren Preisen bestreiten mufs, als es sonst auf einem freien, nicht monopolisirten Markte der Fall wäre, während er anderseits einen grofsen Theil seines Ueberschusses an Getreide nur zu jenem Preise ver kaufen darf, den der Weltmarkt dictirt. Dabei hat er auch noch die Frachtkosten bis zu den Meereshäfen und von da nach Europa zu bezahlen und endlich die nicht geringen Spesen, welche ihm der Handel auf schlägt, zu tragen. Die Industrie nützt das ihr eingeräumte Monopol im gröfsten Mafse aus. Es mufs allerdings zugegeben werden, dafs der amerikanische Industrielle sich das Leben nicht bequem macht. Die Verschiedenheiten zwischen der amerikanischen und der europäischen Industrie sind bedeutend geringer, als man nach den gewöhnlichen Schilderungen erwarten dürfte. Aller- dings darf man unter der Industrie nicht das Klein gewerbe verstehen, welches bei uns noch eine grofse Rolle spielt, in Amerika aber vollständig fehlt. Der Kleingewerbetreibende, der bei uns ein paar Gesellen und Lehrlinge beschäftigt, den Tag damit verbringt, sein Rohmaterial einzukaufen und die Kundschaft zu besuchen, arbeitet theurer, weil er keine Maschine be nutzen kann, weil seine eigene Arbeitskraft verloren geht und weil er sich mit Dingen abgiebt, die er nicht versteht. Ein solcher Kleingewerbetreibender existirt in Amerika nicht. Man findet zumeist nur Fabriken, die ihr Rohmaterial im grofsen einkaufen und Maschinen wo möglich verwenden. Dafs hier die Spesen im Vergleiche zum Umsätze gering sind, erscheint natür lich. Der Arbeiter bleibt Arbeiter, auch wenn er das Zehnfache von dem besitzt, was bei uns mancher Minister hat. Man wird sehr enttäuscht, wenn man neue Er findungen, neue Ideen sucht. So wie in den Läden Newyorks und Chicagos nur das zu finden ist, was in den Auslagen der europäischen Hauptstädte glänzt, so sind auch sämmtliche Industrieen nurKopieen der euro päischen. Das sind unsere- europäischen Constructionen, unsere Brücken, unsere Maschinen, unsere Bahnhöfe, unsere Schienen, kurz unsere Erfindungen, obwohl die technischen Hochschulen der Vereinigten Staaten in genügender Anzahl vorhanden und mit den reichsten Mitteln ausgestattet sind. Der Stolz der besten ameri kanischen Dampfmühlen sind die Walzenstühle, welche die heimischen Fabriken für die Budapester Dampf mühlen construirt haben; der Unterschied zeigt sich nur in der Methode, indem der amerikanischen Mühle das Getreide mit dem Elevator zugeführt wird, während in Budapest die Schulter des Arbeiters den Dienst der Maschine versehen mufs. Die Nähmaschinen und das Telephon und noch einige andere weniger wichtige Erfindungen bilden eigentlich den ganzen Beitrag, den Amerika zur grofsen Reihe von wirthschaftlichen und tech nischen Erfindungen unseres Jahrhunderts geleistet hat