Volltext Seite (XML)
Berufsstände gegen die realistische Bildung zur Schau tragen, die an allgemeiner Bildung nicht schwerer, an Fachstudien und Fachbildung aber anerkanntestermafsen sehr viel leichter zu tragen pflegen als die, gegen welche sich ihre Gering schätzung wendet. Man hebe das sachlich unberechtigte, deshalb schädliche und auf die Dauer unhaltbare Privi legium des Humangymnasiums auf und erkenne öffentlich die völlige Ebenbürtigkeit der neusprachlich - mathematisch - naturwis - senschaftlichen Bildung an. Dann werden zweifellos die Abiturienten der Realgymnasien sich mehren und die der Gymnasien sich mindern. Zu der Annahme aber, dafs sich die Summe beider vermehren werde, liegt absolut kein Grund vor; Gelegenheit macht wohl Diebe, aber keine Studenten. Es werden aber die meisten von denen, welche keine Absichten auf Studium und höheren Staatsdienst haben, sich den Realanstalten zu wenden, wenn sie daselbst nicht nur wie bisher eine für ihre Berufszwecke bedeutend zweck- mäfsigere Vorbildung, sondern auch zugleich eine als der besten gleichwerthig anerkannte Allge meinbildung erhalten können. Wer seinen Shakespeare und Macaulay, seinen Moliere und Racine nicht nur gelesen hat, sondern lesen kann, von der französischen und englischen Literatur eine Idee hat, einen lesbaren franzö sischen und englischen Aufsatz schreibt, und diese beiden Sprachen doch auch schon zwei Jahre mündlich zu gebrauchen angehalten worden ist — der hat einen ebenso sicheren Anspruch auf „allgemeine literarische Bildung“, als wer von Französisch blutwenig, von Englisch gar nichts versteht, aber dafür ein Buch Tacitus und Thucidides, viel Cicero und Horaz, ein Stück des Sophocles und den halben Homer gelesen hat, einen vielleicht leidlichen lateinischen Aufsatz de bello punico altero und ein meist recht angst volles griechisches Exercitium zu leisten vermag. Es ist nun aber unbestreitbar, und wie wir glauben auch unbestritten, dafs die Kenntnifs des Englischen und Französischen aufser der bilden den Kraft des Studiums der bezüglichen Litera turen auch noch in den Geschäften des Gewerbs lebens von aufserordentlich viel gröfserer praktischer Verwendbarkeit ist, als die der alten Sprachen, ja, dafs diese Kenntnifs von Tag zu Tag unent behrlicher wird. Das aber gilt wunderbarerweise in den Augen eines den Forderungen des praktischen Lebens und des gesunden Menschenverstandes völlig abgewandten Fanatismus nicht etwa als ein glücklicher Vorzug, sondern als Beweis von „Banausie und unwürdiger materieller Geistesrich tung“. Es ist schwer zu glauben, aber durch zahlreiche Beweise zu belegen. Der Idealismus soll doch gerade dem Begriff der „höchsten Zweckmäfsigkeit“ nachstreben, das, was sich in dieser Frage so gern und so überlaut als amtliche und alleinberechtigte Vertretung des Idealismus ausgiebt, scheint uns hier aber der Idee der absoluten Unzweckmäfsigkeit bereits bedenklich nahe gerathen zu sein. Andererseits wird es immer allgemeiner an erkannt, dafs — ganz abgesehen von dem grofsen literarischen Mangel der fehlenden englischen Sprachkenntnifs — der Gymnasialabiturient infolge seiner geringeren Vorbildung in Naturgeschichte, Mathematik, Physik und wegen seiner absoluten Unbekanntschaft mit der Chemie überhaupt heute dem Anspruch auf ausreichende allgemeine Vorbildung zur Universität nicht mehr genügt, indem nur durch besondere Rücksichtnahme der Universitäten auf diese bekannten Lücken des Wissens den Gymnasial - Abiturienten das Studium der neueren Sprachen, der Na turwissenschaft, der Physik und Chemie erst ermöglicht wird. Dieser allgemein bekannten, auch von den jenigen, die nicht eine Zweitheilung in Real und Humangymnasium, sondern die „Einheits schule“ befürworten , anerkannten Thatsache gegenüber sollte mindestens an der Berechtigung des Gymnasiums zum au ssc hliefsl ic heil Monopol nicht mehr festgehalten werden. Das Realgymnasium bereitet zur alten Philo logie und zur Theologie ebenso zureichend oder unzureichend vor wie das Humangymnasium zur Chemie, Physik, Mathematik und den Naturwissen schaften, d. h. die Naturwissenschaftler, Mathe matiker, Chemiker etc., die von Humangymnasien kommen, und die alten Philologen, vielleicht auch die Theologen, die von Realgymnasien abgehen, brauchen 1 bis 2 Semester mehr, als wenn sie auf der andern Anstalt ihre Vorbildung empfangen hätten, in allen anderen FacultätsStudien hat das Realgymnasium nicht die min deste Ursache, den allerstrengsten Ver gleich zu scheuen. Das Verlangen der Real gymnasien auf Gleichstellung ist also ein sachlich sehr billiges und die Gewährung desselben bringt uns nicht, wie gesagt wird, eine Vermehrung der Abiturientenzahl, sondern nur eine andere und billigere Vertheilung derselben zwischen Human- und Realgymnasium, die heute durch das Gymnasialmonopol ungerecht gestaltet ist. In der Ungerechtigkeit dieser künst lichen oder vielmehr gewaltsamen Ver theilung aber liegt die Quelle der gerecht fertigten Unzufriedenheit und des Prole- tarierthums vieler Abiturienten. Man zwingt ihnen eine Vorbildung auf, die sie fürs praktische Erwerbsleben unbrauchbar macht, und drängt sie so in ein überfülltes Facultätsstudium und einen für Jahrfünfte überfüllten und deshalb gar nicht oder unzureichend bezahlten Staats dienst hinein. Man gebe der Realbildung die Ehre, die ihr im 19. Jahrhundert gebührt und die sie auch