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STAHL UND EISEN.“ Nr. 4. 311 April 1889. wollen und Verständnis erwarten, welches zu ihrem Gedeihen nöthig ist, oder liegt in einem paritätischen Staat in der Verbindung gerade dieser beiden Aemter nicht ein unlösbarer Widerstreit von Pflichten, ja sogar ein logischer Widerspruch vor? Die Theologie hat ihre ererbten und lange berechtigten Ansprüche an die Schule und namentlich an die höhere Schule mehr und mehr aufgeben müssen, seit die Pädagogik als selb ständiger Lebensberuf immer mehr erstarkte und der Vormundschaft entwuchs, seit die wissen schaftliche Entwicklung unserer Gultur an den Lehrberuf wie an die Schule immer mehr An forderungen stellte, die den Menschen ganz in Anspruch nehmen, die man im Nebenamte nicht mehr erfüllen und auch in der Aufsichtsinstanz ohne langjährige Studien nicht mehr überblicken und beaufsichtigen kann. Sie hätte die Führung und Vormundschaft aber auch ohne das verlieren müssen, als es ihr in einem paritätischen Staate wie Preufsen nicht gelang, die confessionellen Streitigkeiten und Unterscheidungslehren in mafs- vollen Grenzen und Formen zu halten und die gemeinsame Grundlage der christlichen Gultur mehr zum Bewufstsein zu bringen als die tren nenden Gegensätze. Man. braucht wohl keinen Widerspruch zu fürchten, wenn man behauptet, dafs sie das nicht einmal versucht hat. Damit hat u. E. die evangelische wie die katholische Theologie sich bei uns ebenmäfsig als mafsgebende Factoren des höheren Schulwesens unmöglich gemacht. Wenn aus irgend einem Grunde die Bildung eines selbständigen Unterrichtsministeriums nicht möglich wäre, würden wir schon in Rücksicht auf die Stellung der Schule zu den confessionellen Streitigkeiten in der Einordnung der Schule unter jedes andere Ministerium eine Verbesserung der Lage, in der unter das Kriegsministerium z. B. nach mehr als einer Seite sogar einen sehr erheblichen Fortschritt gegen die derzeitige Sachlage erblicken. Das preufsische Heer ist seit bald einem Jahrhundert die gemeinsame Bildungsanstalt für zwei Drittel der männlichen Bevölkerung vom gemeinen Mann bis zum Sohn des höchstgestellten Beamten, in Unteroffizierschulen und Gadetten- häusern hat es seinen Beruf für den Volksunter- richt wie für die gelehrte Erziehung in hohem Mafse und mit mehr Erfolg als irgend ein anderes Ministerressort bewiesen, und unberechtigte An sprüche kirchlichen Uebereifers würden ihm gegenüber die allergeringste Aussicht auf Erfolg haben. In dem energischen und zielbewufsten Geist, der, Gott sei Dank, in demselben webt, wäre ferner die beste Garantie dafür zu finden, dafs die vielen und schweren Reste, die sich seit vollen 40 Jahren bei uns angesammelt haben, endlich aufgearbeitet würden, damit der preufsische Lehrer einmal wieder freudig seine Pflicht thun und mit Vertrauen in die Zukunft sehen könnte. Aber wir sind der Meinung, dafs ein beson deres Unterrichtsministerium in Preufsen von Tag zu Tag mehr Nothwendigkeit geworden ist und keinenfalls zu den .nicht ausreichend be schäftigten Behörden zählen würde. Es würde reichlich Arbeit finden. Denn die preufsische höhere Schule hat rühm lichere und bessere Zeiten gesehen als die letzten 30 Jahre, sie hat an den Folgen ihrer unhalt baren Ressortverhältnisse schwer zu tragen gehabt, und alle die reichen Mittel, welche ihr die stei genden Einnahmen des Staates und der zuneh mende Reichthum der Städte bereitwillig zur Verfügung stellten, haben ihr keine mit den sonstigen Fortschritten der Zeit ebenbürtige Ent wicklung ermöglicht. Ein ängstliches Festhalten an dem, was sich selbst als »bewährt« bezeichnete, und was doch jeder Gelegenheit, sich in Kampf und Praxis zu bewähren, vorsichtig aus dem Wege ging, ein abwehrendes, widerwilliges Ver halten gegenüber den unabweislichen Forderungen einer neuen Zeit, neuer wissenschaftlicher Ent wicklung und völlig neuer Verhältnisse, ganz besonders aber auch ein wenig zielbewufstes, unsicher hin- und hertastendes Experimentiren mit den so aufserordentlich wichtigen Schulen, auf denen die Erwerbsstände des Landes vorzugs weise ihre Schulbildung suchen sollen — das sind so einige der trüben Farben, aus denen sich das Bild dieser Zeit zusammensetzt. Es würde nicht recht sein, das Alles der Ver waltung oder gar einzelnen Persönlichkeiten schuld zu geben — viel davon lag in den Verhältnissen. Der Verfassungsconflict der 60er Jahre und später der Culturkampf spalteten die Interessenten in zwei feindliche Lager. Die gewaltigen Kriege und die wunderbare Entwicklung des Deutschen Reichs nahmen die besten Kräfte und das leb hafteste Interesse nach anderer Seite mächtig in Anspruch. Und selbst der gewaltige Mann, die Ehre und der Stolz unseres Volkes, auf den sich heute das Auge jedes Hülfesuchenden richtet — er ist in diesem Fall nicht ohne passive Mit schuld — er kann nicht Alles selbst machen, und da man mit Recht nichts wider ihn machen will, kann man auch Vieles nicht ohne ihn machen; weil er aber Wichtigeres zu thun hat, so bleibt Manches beim Alten. Auch sein Wort vom Abiturientenproletariat hat in vielen Köpfen Unheil und Verwirrung angerichtet und für feh lende Gründe den Vorwand zur Ablehnung liefern müssen. Gewifs, es wäre undankbar, wollte man darüber klagen, aber item, es ist so und es wird die höchste Zeit, uns darauf zu besinnen, was wir unserer Jugend schuldig sind, und uns zu erinnern, dafs infolge unserer halbfertigen, un fertigen, heute hierhin, morgen dahin schwan kenden Schulverhältnisse alljährlich Hunderte und