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Mai 1889. „STAHL UNI) EISEN.“ Nr. 5. 391 Gröfse derjenigen Senkung, welche nach erfolgter Entlastung verbleibt, nennt man bekanntlich die bleibende Durchbiegung, im Gegensatz zu der sog. elastischen Durchbiegung, welche unter der Einwirkung der Verkehrslast beobachtet wird, welche aber jedesmal nach eingetretener Entlastung völlig wieder verschwindet. Sobald nun die Construction unter der Wirkung von Eigengewicht und Verkehrslast sich völlig gesetzt hat, darf bei fortgesetzter Belastung eine bleibende Durchbiegung nicht mehr eintreten, damit die Unwandelbarkeit der Construction bezw. unveränderliche Erhaltung der Knotenpunkte des Constructionssystems in der ursprünglichen, bei der Berechnung angenommenen Lage möglichst dauernd gewahrt bleibe. Dieser letzte Satz enthält eine nothwendige Grundbedingung für die ausreichende Sicherheit jedes eisernen Tragwerks. Aber auch noch aus einem andern als dem angegebenen Grunde darf gegen die Bedingung nicht verstofsen werden. Professor Bauschinger* hat nämlich durch seine Festigkeitsversuche — auf welche weiterhin noch näher eingegangen wird — nachgewiesen, dafs die wiederholte Inanspruchnahme eines Stabes über die Elasticitätsgrenze hinaus die Festigkeits eigenschaften desselben auf die Dauer beeinträch tige. Eine derartige unzulässige Inanspruchnahme einzelner oder aller Theile einer Construction — ihre tadellose Herstellung vorausgesetzt — müfste aber eingetreten sein, wenn bei fortgesetzter Be lastung derselben öfter bleibende Durchbiegungen beobachtet werden. Aus dem Erörterten erhellt sonach, dafs für die Sicherheit eines eisernen Tragwerks eine dauernde Inanspruchnahme einzelner Theile desselben über die Elasticitätsgrenze hinaus aus doppelten Gründen für unzulässig zu erachten ist, erstens, weil die dauernde Unwandelbarkeit der Constructionsgestalt, und zweitens, weil die ursprünglich vorhandenen Festigkeitsgröfsen des Materials dabei nicht er halten bleiben.** Es fragt sich nun weiter, ob bei alleiniger Erfüllung der vorgenannten Bedingung die Sicher heit der Construction auf die Dauer eine aus reichende bleibt. Diese Frage mufs verneint werden. Professor Bauschinger hat bei seinen Dauerversuchen zwar festgestellt, dafs selbst nach 5- bis 16 millionenfacher wiederholter Be anspruchung*** eines Stabes, deren untere Grenze * Mittheilungen aus dem mechanisch-technischen Laboratorium der technischen Hochschule zu München. 188G. 13. Heft. ** Eine vorübergehende Inanspruchnahme einzelner Constructionstheile über die Elasticitätsgrenze hinaus läfst sich bei der Aufstellung neuer Brücken häufig nicht vermeiden. Sie erscheint auch innerhalb gewisser Grenzen unbedenklich. *** Um 16 Millionen Beanspruchungen zu erleiden, müfste z. B. eine Eisenbahnbrücke 500 Jahre lang täglich etwa 87 Mal befahren werden. stets Nidl ist und deren obere Grenze unter der Elasticitätsgrenze liegt, ein Bruch desselben nicht herbeigeführt werden kann, es ist aber aus den Versuchen Wöhlers und Bauschingers aufserdem zu entnehmen, dafs eine fortwährend zwischen Zug und Druck abwechselnde Beanspruchung eines Stabes gefährlicher ist, als eine stets im näm lichen Sinne gerichtete Beanspruchung desselben, wenn auch bei beiden Beanspruchungsarten die erzeugten gröfsten Spannungen gleich sind. Danach dürfte man für alle Constructionstheile, welche wiederholt nur in einem Sinne beansprucht werden, die Elasticitätsgrenze als zulässige Spannungs grenze bezeichnen, nicht aber für solche Theile, welche unter der Einwirkung von Eigengewicht und Verkehrslast wiederholt abwechselnd Zug und Druck erleiden. Solche Theile dürfen höchstens nur mit einem (auf Grund von Versuchen be stimmbaren) Bruchtheil der Spannung an der Elasticitätsgrenze beansprucht werden. Wie verhält es sich aber mit der zulässigen Inanspruchnahme der Theile eines Tragwerks, das nur allein sein Eigengewicht zu tragen hat? Darf man mit Grund, wie es in der Regel geschieht, annehmen, dafs der Einflufs des Eigen gewichts, welches alle Tragwerkstheile dauernd in einen gewissen Spannungszustand versetzt, auf die ursprüngliche Widerstandsfähigkeit der Theile der nämliche oder ein minder gefährlicher ist, als die Wirkung einer in Pausen wiederholten Be lastung, bei welcher die Tragwerkstheile jedesmal von der Spannung Null aus in den gleichen Spannungszustand gebracht werden? Wir sind der Ansicht, dafs das nicht geschehen darf. Wir halten vielmehr eine Inanspruchnahme eines Stabes, welche — wie die Spannung aus dem Eigengewicht — dauernd anhält, für gefährlicher, als eine ebenso grofse Inanspruchnahme, welche durch wiederholte Belastung herbeigeführt wird, wobei die Spannung des Stabes in den Belastungspausen jedesmal auf Null zurückgeht. Zur Erkennung der Richtigkeit der eben ausgesprochenen Ansicht führen — da andere Beweismittel, namentlich Versuche, auf die man sich stützen könnte, fehlen — folgende Betrachtungen. Aus der bekannten Erscheinung der elasti schen Nachwirkung und aus verschiedenen Versuchen über den Einflufs der Zeit auf die Wirkung von wiederholten Belastungen glauben wir schliefsen zu dürfen, dafs während der Ruhe pausen, die nach erfolgter Belastung oder zwischen zwei Belastungswechseln eines Stabes eintreten, eine gewisse Wiedererstarkung des Stabmaterials sich vollzieht, welche um so nachhaltiger wirkt, je länger die Ruhepause andauerte. Die zuerst von Styffe,* später auch von Wöhler,** Beardslee, *** * Knut Styffe, Die Festigkeitseigenschaften von Eisen und Stahl S. 28, 150 und 302. ** »Zeitschr. f. Bauw.« 1863, S. 245 u. 246. *** »Journ. of the Franklin Inst.« 1874, I.