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1. December 1898. lieber den Arbeitermangel. Stahl und Eisen. 1093 mangel Rücksicht zu nehmen, dafs in Ost- und Westpreufsen Bedenken gegen die Einführung neuer Industriezweige und in Schlesien wegen Steigerung des Arbeitermangels sogar Bedenken gegen die Bauausführungen zur Regulirung der nicht schiff baren Flüsse erhoben werden. Nun haben wir zwar scheinbar keine Ver anlassung, uns über die Beseitigung des Arbeiter mangels den Kopf zu zerbrechen, da diese Frage in dem socialdemokratischen Zukunftsstaat in der einfachsten Weise gelöst ist. In einer Schrift: „Ein Blick in den Zukunftsstaat, Production und Consum im Socialstaat“ von „Atlanticus“, mit einer Vorrede des socialdemokratischen Schrift stellers Kantski, wird nämlich berechnet, dafs bei staatlicher Herstellung der Kleidungs- und Nahrungsstoffe, der Baumaterialien, der öffent lichen Gebäude und Verkehrsmittel für den Mann eine 9- bis 10jährige und für die Frau eine 6- bis 8jährige Normalarbeitszeit genügen würde, um alle nothwendigen Lebensbedürfnisse und noch einen Ueberschufs darüber hinaus zu beschaffen. Infolgedessen würden die Angehörigen des neuesten Zukunftsstaates aufserordentlich früh ihre Pensions berechtigung erwerben können, die Männer mit 26 bis 28, die Frauen mit 21 bis 24 Jahren, sie würden für das ganze Leben der Nahrungs sorgen ledig sein und in die Lage kommen, an die Schaffung eines gemüthlichen Heimwesens zu gehen, für Luxusbedürfnisse zu sorgen u. s. w. In dem neuen Zukunftsstaate soll das Ruhegeld für Männer 800 6, für Frauen 450 6 jährlich betragen und durch die Verstaatlichung der Pro- ductionsmittel die Productivität so gesteigert wer den, dafs allein in der Landwirschaft von 8 Millionen Arbeitskräften über 5 Millionen gespart werden könnten! Da indessen diese, dem Zukunftsstaate zu Grunde liegenden Berechnungen selbst von social demokratischer Seite bezweifelt werden, so wird es doch nicht zu umgehen sein, sich mit der Frage der Beseitigung des Arbeitermangels zu beschäftigen, und zwar um so mehr, als mit der Zunahme desselben auch die Steigerung der Löhne* im engsten Zusammenhänge steht. Der Nothstand der Landwirthschaft im Osten hat zuerst dazu ge führt, von socialpolitischer Seite aus sich mit der Laudarbeiternoth und der damit verbundenen Doppelerscheinung — dem Zuge nach dem Westen und dem Zuge in die Stadt — zu beschäftigen. Wie indessen bei diesen Untersuchungen, welche von einer dem praktischen Leben fernstehenden Seite ausgehen, zu erwarten war, haben dieselben zu keinem nutzbaren Ergebnifs geführt. Man * In dem Geschäftsbericht der Harpener Bergbau- Actiengesellschaft für 1897/98 wird unter anderem erwähnt: Die Kohlenförderung unserer Gesellschaft war nur 200000 t gröfser als im Vorjahre, erforderte aber 3 Millionen Mark mehr an Arbeitslöhnen, während die Arbeitsleistung zurückging. hat mit einer gewissen Resignation, die angeblich die Betrachtung socialer Dinge dem Wahrheits sucher aufdrängt, es als wahrscheinlich bezeichnet, dafs die Möglichkeiten der Abhülfe hier wie überall der mit elementarer Macht vordringenden Ent wicklung nur zum Theil gewachsen sind, im ganzen und grofsen aber nicht zuriickgedrängt werden können. Dieser resignirten Anschauung scheint sich auch die Landwirthschaft hinzugeben. Denn aufser der, sich doch mehr und mehr bahn brechenden Erkenntnifs, dafs die Landwirthschaft dem Zuge nach dem Westen und nach der Stadt um desto erfolgreicher Concurrenz* machen und um so eher dem Arbeitermangel abhelfen wird, je bessere Arbeits- und Lebensbedingungen ge boten werden, d. h. höhere Löhne, fortschreitend bessere Behandlung, die Möglichkeit der Ansiedelung u. s. w., sind aufser den von der Staatsregierung getroffenen Anordnungen, insbesondere durch das Gesetz über die Ansiedelungen in Posen und West preufsen, vom 26. April 1886 von der Land wirthschaft selbst irgend welche erfolgreiche Schritte zur Beseitigung des Arbeitermangels nicht bekannt geworden. Der naheliegende und fruchtbarste Gedanke, dem Arbeitermangel durch Einschränkung der Handarbeit und Ersatz derselben durch mechanische Arbeit abzuhelfen, wie dies ja bei der Landwirthschaft in Nordamerika mit so grofsem Erfolge geschieht, scheint auffallenderweise bisher wenig Beachtung gefunden zu haben. Die nach folgenden Zusammenstellungen** der in Preufsen vorhandenen Dampf- und landwirthschaftlichen Maschinen lassen wenigstens erkennen, dafs in den östlichen Provinzen, in denen am meisten über Arbeitermangel geklagt wird, für die Ein führung landwirthschaftlicher Maschinen noch ein weites Feld offen' steht, und aus diesem Grunde sowie mit Rücksicht auf die kürzere Bestellungs zeit auch ein verhältnifsmäfsig gröfserer Bedarf an ländlichen Arbeitskräften erfordert wird. Das Zurückbleiben der landwirthschaftlichen Cultur ist * Besonders bemerkenswerth ist, dafs von der Bevölkerungszunahme seit 1882 von 6 548171 Seelen fast 2/3, nämlich 4195161 Unterkommen in der In dustrie gefunden haben, 1 485 765 Personen im Handel und Verkehr und nur 723 148 Personen in der Land wirthschaft. ** Wenn man die Leistungsfähigkeit der über haupt vorhandenen Dampfmaschinen zu der Volkszahl der einzelnen Provinzen in Beziehung setzt, so ergiebt sich, dafs auf 1009 Einwohner kommen Ostpreulsen . . . . . 17,2 Pferdestärken Posen . . 24,0 n Westpreufsen . . . . . 27,1 Pommern .... . . 29,7 n Hessen-Nassau . . . . 33,6 n Stadtkreis Berlin . . . 36,6 » Schleswig-Holstein . . 38,5 n Brandenburg . . . . . 52,9 n Hannover .... . . 60,7 » Schlesien . . 79,8 n Sachsen . . 81,0 » Rheinland .... . . 143,3 n Westfalen .... . . 214,1 n