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200 Die Uhr. „Keine Widerrede — es ist abgemacht!" sagte er, hängte sich wieder an meinen Arm und zog mich mit sich fort. Wir gingen zum Uhrmacher. Sobald ich eintrat, fiel sein Blick aus meine Schuhe. Prüfend und mit unverschämter Miene lieh er ihn an mir aus und nieder gleiten. Ich wollte lächeln, als ich das bemerkte; aber mein Mund zog sich nur krampfhaft zusammen. Der Uhrmacher legte uns eine ganze Menge goldener und silberner Uhren vor. .Hilf mir jetzt," sagte Henrik. „Sieh hier, was meinst du? Sollte ich nicht doch eine goldene nehmen?" „Wenn du es dir leisten kannst " Ich fror vor Hunger und fühlte mich sehr matt. Mein Aussehen peinigte mich. Ich sah, daß meinem Hut nichts Besonderes fehlte. Der war's also nicht, der die Aufmerk samkeit der Vorübergehenden erregt hatte! Ich schielte auf meine Schuhe hinunter; merkwürdig, Latz sie überhaupt noch zusammenhielten, so zerlumpt wie sie waren. Und mit denen sollte ich in eine Restauration gehen?" „Jetzt mutz ich aber fort, Henrik!" „Fort? Du bist wohl verrückt! Wir wählen schnell eine Uhr aus und dann " Er wandte sich zum Uhrmacher und begann von neuem in den Uhren zu wühlen. Endlich nahm er eine große, schwer goldene Uhr in die Hand. Der Uhrmacher tippte leicht mit dem Finger gegen das Gehäuse. „Chronometer," sagte er, „eine sehr feine Uhr, garan tiert " „Was kostet sie?" — Henriks Augen glänzten ihn, halb bedenklich, halb begehrlich, an. „585 Kronen!" Henrik hielt die Uhr lange in der Hand, untersuchte sie und liebäugelte mit ihr. Er schien sich darüber zu freuen, wie über einen Fund. „Meinst du nicht, daß ich sie nehmen sollte?" sagte er lächelnd und reichte sie mir hin. Ich nahm sie in meine Hand. Ich weiß nicht mehr genau, aber ich glaube, daß meine Hand zitterte. Es war eine große, schöne Uhr. Sie hatte eine doppelte Kapsel und sollte im ganzen Jahr nicht eine Minute ver lieren. Zu den vollen Stunden spielte sie eine Melodie, eine kleine, feine, dünne Melodie. Immer dieselbe, vier undzwanzigmal im Wechsel von Tag und Nacht. Der Ge danke erschien Henrik besonders spaßhaft, daß sie. immer dieselbe dünne, kleine Melodie spielte. „Ist es nicht spaßhaft?" wiederholte er mehrere Male und lachte vor innerer Fröhlichkeit. „Findest du es nicht wirklich spaßhaft? Meinst du nicht, daß ich sie nehmen sollte?" „Ja .... das mußt du wohl !" erwiderte ich; meine Stimme klang wie aus weiter Ferne zu mir her über, während ich die Uhr in der Hand hin und her wiegte. ,Za, nicht wahr? — Ja, ich werde sie also nehmen!" sagte er, zu dem Uhrmacher gewandt, der sich höflich ver beugte. . „Sie kostet also .... wieviel doch?" „585 Kronen!" Henrik zog seine Brieftasche heraus und zählte die Scheine auf den Tisch. Er mußte das Silbergeld aus seiner Börse zu Hilfe nehmen. Umständlich zählte er die Summe nach. Der Uhrmacher begleitete uns unter höflichen Bücklingen bis an die Tür. Ich hatte das Gefühl, daß er stehen blieb und mir nachsah. „Ich freue mich wirklich sehr, daß du mitgingst," sagte Henrik, als wir draußen waren. „Ich glaube kaum, daß ich mir allein eine Uhr ausgesucht hätte ..." „Ach.... warum nicht? . . . ." lächelte ich. „Aber sie war doch teurer, als ich gedacht hatte. Nicht wahr? Findest du nicht, daß es sehr viel Geld ist?" Viel Geld! klang es wie aus weiter Ferne durch mein Bewußtsein — viel Geld was ist das — viel Geld? — „Ich weiß nicht," erwiderte ich und fühlte, wie mich der Schwindel von neuem übermannte. „Langweilig genug —" Henriks Stimme klang wirklich enttäuscht, — „ich habe nicht einmal so viel Geld übrig, daß wir zusammen zu Mittag essen können." „Ja, aber, mein Lieber, das ist doch wirklich kein Unglück —" „Doch, das ist ein Unglück. Ich hatte mich gerade darauf gefreut, mit dir zusammen zu essen." Wir gingen langsam die Straße hinunter. Die Sonne schien und wir begegneten vielen jungen, hellgekleideten Damen. Henrik grüßte oft, mit einem eigentümlich warmen Schein in seinem Lächeln; er redete unaufhörlich und sah aus, als ob ihm ein großes Glück widerfahren sei. Das Blut sauste und brauste mir vor den Ohren. Zu weilen war es mir, als würde ich plötzlich blind. Ich wußte, daß ich hungrig war, aber ich hatte keine Schmerzen mehr. Nur meine Füße brannten; ich hatte das Gefühl, als ob sie geschwollen wären. Henrik blieb plötzlich stehen und zog seine goldene Uhr aus der Tasche: „Schon so spät? — Ich muß eilen, daß ich nach Hause komme. Ja, ja. Aber ein andermal essen wir zusammen zu Mittag!" „Danke. Ja — wenn du " „Za, du holst mich dann einmal ab, nicht wahr? Jetzt mutz ich schnell nach Hause. Leb wohl!" „Leb wohl, Henrik!" Er sprang auf einen vorüberfahrenden Omnibus und blieb hinten stehen. „Danke für deine Hilfe!" rief er mir nach. Ich drängte mich in einen dichten Menschenschwarm. Ich wußte nicht mehr, warum, aber unwillkürlich trieb es mich ins Gewühl. Nach einem Augenblick sah ich mich um' Der Omnibus fuhr eben die schmale Straße hinauf, die er ganz ausfüllte; Henrik stand hinten darauf. Als er mich entdeckte, winkte er grüßend mit der Hand, ein strahlendes Lächeln-verklärte sein Gesicht.