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als Jüngling auch manches harte Urteil über Mendelssohn ausgesprochen hatte, als gereifter Mann aber folgende Worte sprach: »wenn Sie mich einmal, sozusagen als Celebrität verwenden wollen, wenn es sich um einen edlen Zweck, etwa die Errichtung des Mendelssohn-Denkmals handelt, dann rufen Sie mich, dann komme ich gern; wenn man alt wird, muß man gut zu machen suchen, was man in der Jugend gesündigt hat, und an dem Manne habe ich viel wieder gut zu machen!« Gleichwie Mendelssohn nach Händel und Haydn das erste erfolgreiche Oratorium geschaffen hatte, so schenkte er auch den Geigern das erste symphonisch gehaltene Violinkonzert, welches nach dem Beethovenschen eine bleibende Stätte in der Violin-Literatur fand, und erwies sich in seinen herrlichen Klavierfugen Op. 35 als derjenige würdige Nachfolger Bachs und Mozarts, welcher alle inzwischen entstandenen Werke dieser Art in den Schatten stellte. In noch manchen anderen Gattungen der Musik ist das gleiche Vorkommnis nachzuweisen, doch würde dies zu weit führen. Dagegen ist hervorzuheben, daß der Meister das Lied für gemischten Chor gewissermaßen erst erfunden hat, und unter diesen Liedern finden sich wahre Perlen, die zu jener Zeit, da Mendels sohn in Leipzig lebte, geradezu volkstümlich waren. Da hörte man in jeder,Abendgesellschaft, sei es im Fregeschen, Dörrienschen, Härtelschen oder Carl Voigtschen Hause, unweigerlich diese Lieder von trefflichen Künstlerinnen und Dilettanten singen. Auch war es dem Meister vergönnt, Weisen zu schaffen, die in der Tat zu Volksliedern geworden sind: in allen Welt teilen ist sein Lied: »Wer hat dich, du schöner Wald« gesungen, und ein anderes: »Es ist bestimmt in Gottes Rat« ist schon Tausenden an der Gruft gesungen worden und wird auch fernerhin noch der schönste Scheidegruß sein, den man dem Dahingeschiedenen ins Jenseits sendet. Während die Kunst des Improvisierens in der Gegenwart fast gänzlich verschwunden ist, war Mendelssohn ein großer, vielleicht der letzte bedeutende Improvisator; wie er kunstreich seine Gedanken mit den soeben verrauschten Orchesterklängen eines Weber zu verflechten uud durchzu führen wußte, war staunenswert, ebenso sein Gedächtnis, das ihm ermöglichte, einmal gehörte Sachen nach mehreren Wochen auswendig zu spielen. Auch wenn er dem Kunstjünger, der den Meister um sein Urteil gebeten hatte, ganze Perioden aus dessen Schülerarbeiten aus dem Gedächtnis vorspielte, mußte man darüber staunen. Daneben war sein wunderbar treffendes Urteil, wenn auch tadelnd, so doch milde und ermutigend, und seine Lehren zeugten von tiefster Einsicht in das Wesen der Kunst.*) Zu erzählen wäre noch von seiner stets bereiten Förderung junger Talente, von seiner Schlagfertigkeit, wenn er beispielsweise Liszts Behauptung, man könne auf dem Klavier jeden Orchestereffekt wiedergeben, sofort dementierte, indem er ihn bat, den ersten Takt aus Mozarts G moll-Symphonie zu spielen, worauf Liszt lachend erwidern mußte: »Das kann ich nicht.« Desgleichen von seinen leuchtenden Augen, wenn Jenny Lind seine Lieder sang, oder wenn er sein Oktett in einer Soiree bei Dr. Härtel von Ernst, Bazzini, Joachim und David, Gade und Königslöw, Rietz und Grabau hörte, und später mit Frau Schumann das Scherzo aus dem Sommernachtstraum spielte. Doch, es ist genug. Zum Schluß: Ehre und Dank dem Meister, der uns die Bachsche Matthäus- Passion nach hundertjährigem Schlafe wieder zu bleibendem Besitz eroberte und dem auch das schöne Dichterwort Friedrich Röbers gilt: »Wen die Götter lieben, Dem geben sie Gleichmaß In allen Dingen, Zu der Phantasie, Die Erd’ und Himmel umfassen will, Den wägenden Verstand, Der sie gefesselt hält Im einfach Schönen.« Carl Reinecke. *) Möge das unabweisbare Dankesgefühl, Mendelssohn gegenüber, den Verfasser dieser Zeilen entschuldigen, wenn er hier einmal seine eigene Person einführte. Denn die Schülerarbeiten, von denen hier die Rede ist, waren die seinigen. Von Gade freundlich an Mendelssohn empfohlen (welcher damals in Lurgensteins Garten, im ersten Hause links wohnte), lud dieser mich ein, ihm vorzuspielen und ihm einige Kompositionen zur Durchsicht mitzubringen. Nachdem er sie einige Tage bei sich behalten hatte, ging er sie mit rührender Sorgfalt mit mir durch, und entließ mich mit ermutigenden Worten, wie er auch freundliche Worte für mich hatte, als ich einige Wochen später am 16. November 1843 dessen »Serenade und Allegro giojoso« im Gewandhaus-Konzerte gespielt hatte. Druck von Breitkopf & Härtel in Leipzig.