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Zum 3. Februar 1909. Derselbe Goethe, der den zwölfjährigen Felix Mendelssohn einen »himmlischen Knaben« nannte, sagt auch das schöne Wort: »Was eben wahr ist aller Orten, Das sage frei mit ungescheuten Worten«, und so sei es auch frei ausgesprochen, daß Der, dessen hundertster Geburtstag heute im Leipziger Gewandhause, sowie an vielen anderen, der Tonkunst geweihten Stätten festlich begangen wird, ein edler, großer Meister im Reiche der Töne ist, auf dessen Besitz Deutschland stolz sein muß, und dem insonders Leipzig und das Institut der Gewandhaus-Konzerte die größte Verehrung und Dankbarkeit schulden, denn Er war es, der Leipzig seinerzeit zur musikalischen Metropole Deutsch lands, und die Gewandhaus-Konzerte zu einer Bedeutung emporhob, wie sie außerdem nur die Conservatoire-Konzerte in Paris unbestritten eingenommen hatten. Mendelssohns Lebensgang in seinen Hauptzügen ist in wenige Worte zu fassen: er war, ähnlich wie Goethe, der Sohn wohl habender, hochgebildeter Eltern, die ihn verständig und liebevoll erzogen, und genoß trefflichen Unterricht in allem Wissenschaftlichen, während als Lehrer für die Musik die besten ihrer Zeit, Zelter, Ludwig Berger und Moscheies gewählt waren; von seinen frühen Knabenjahren an arbeitete und schuf er unablässig, bis in seinem besten Mannesalter die Feder seiner nimmermüden Hand entsank, weil der Körper dem Ansturm des rastlos schaffenden Geistes nicht mehr standhielt. Als Neunjähriger trat er zuerst als Klavierspieler öffentlich auf, als Sechzehnjähriger schuf er sein später so berühmt gewordenes Oktett für Streichinstrumente, und ein Jahr später die Ouvertüre zum Sommernachtstraum; so ist es begreiflich, daß er sich schon in seinen Jünglingsjahren hoher Anerkennung aller zeitgenössischen Musiker erfreuen konnte. Während Cherubini und Carl Maria von Weber ihn als Knaben schon bewundert hatten, so zollten ihm später Meister wie Robert Schumann, Moritz Hauptmann, Liszt, Berlioz (siehe dessen begeisterten Bericht über die Walpurgis nacht), Gade, Rietz usw. neidlos die aufrichtigste Bewunderung. Und diese hatte er lediglich seinen Werken, seinem ausgezeichneten Klavier- und Orgelspiel, sowie seinem Wirken als genialer Dirigent zu danken. Niemals hat eine Spur von Reklame ihm zu seinem Ruhme verhülfen. Eine Würdigung seiner Werke tut nicht mehr not, die Geschichte hat bereits bewiesen, daß er deren von dauerndem Werte geschaffen hat. Sein im Jahre 1835 vollendeter »Paulus« (welchen Schumann »ein Werk der reinsten Art, eines des Friedens und der Liebe« nennt) war, wie Hermann Kretzschmar sagt, »das erste Oratorium, welches sich an bleibendem Erfolge mit der »Schöpfung« messen konnte. Es erlebte in den ersten achtzehn Monaten, nachdem es aus der Taufe gehoben worden, ein halbes Hundert Aufführungen und es hat bis auf die Gegenwart in immer wechselnder Umgebung und mitten unter der neuerwachten Pflege Händels seine Stellung behauptet. Die Zeit, wo über dies Werk einfach zur Tagesordnung übergegangen werden könnte, ist noch sehr fern.« Zehn Jahre später entstand der »Elias«, über den sich Schumann folgendermaßen äußert: »Elias ist des fertigen Meisters ausgereiftes Werk, männlicher in Gesichtsausdruck als der Paulus des Sechsundzwanzig jährigen, daneben aber hinsichtlich der Erfindung ebenso jugendlich frisch-, wie das erste Oratorium.« Es ist fast überflüssig, seiner Lieder ohne Worte, der herrlichen Fugen für Klavier Op. 35, der Variations serieuses, der Ouvertüren »die Hebriden«, »Meeresstille und glückliche Fahrt«, des tief ernsten ergreifenden Kirchenchors »Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen«, des Violin- Konzertes und vieler anderer Werke zu gedenken, die seit langer Zeit unzählige, für edle, reine Musik empfängliche Herzen erquickt und erfreut haben. Und doch fehlt es angesichts dieser großen Anzahl hervorragender Werke nicht an einem Kreise von Künstlern und Dilettanten, die sich einigermaßen von Mendelssohn abgewandt haben; es hieße mit sehenden Augen blind sein, wenn man sich dies verhehlen wollte. Seltsamerweise ist es seine vollendete Meisterschaft in der Form, sowohl was die Architektur seiner Werke im großen Ganzen betrifft, wie auch die Linienführung seiner Melodie, die Farbengebung im Orchester wie im Chor, das Maß und die reine Schönheit, die man ihm oft zum Vorwurf macht, während doch nur eines gereiften Geistes Werk, aus innerer, seelischer Notwendigkeit hervorgegangen, auch in der Form vollendet sein wird. Jedoch gibt es Sympathien und Antipathien, selbst Idiosynkrasien, und man muß eines jeden Geschmack gelten lassen, aber es bleibt doch der Wunsch und das Verlangen bestehen, daß die Ausstellungen, die einem solchen Meister gemacht werden können, mit unerläßlicher Ehrerbietung Ausdruck finden. Diejenigen, die solches vielleicht nicht beherzigt haben, mögen an Hans von Bülow ein Beispiel nehmen, welcher