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Die Alpenpässe im Winter. Ais zum Schlüsse des vorigen Jahrhunderts gab es keine Kunststraßen über die Alpeck. Die Nebergänze über dieselben konnten nur zu Fuß oder auf sicheren Maulthieren passirt werden. Und es gehörten feste Nerven und ein schwindelfreier Kopf Lasst, auf schmalenLcrgpfadcn, die oft mttLtcin- geröll bedeckt an steilen Wänden hiuführlcn, von denen ein einziges Schwanken den Unglücklichen Tausende von Fuß tief in den Abgrund stürzte, sicher fortzukommen. Im Winter war oft der Uebergang monatelaug unmöglich. Den ersten 'Anstoß zum Bau einer Kunststraße hat der damalige erste französische Konsul Napoleon Bonaparte gegeben, indem er die Kolossalbautcn der Simplonstraße aussührcn ließ, die nach vier Jahren angestrengtester und gefahrvollster Arbeit (1801 bis 1805) vollendet ward und noch heute als ein unübertroffenes Kunstwerk ar.gestaun! wird. Der Kamen Graubünden und Oesterreich folgten mit ähnlichen Straßen in ihrem Gebiet, und so mußte denn auch der kleine Kanton Uri zum Bau der Straße über den St. Gotthardt sich cmschließen, wenn er den einträglichen Verkehr durch sein Gebiet »ach und von Italien nicht gänzlich verlieren wollte. Von 1828 bis> 1833 wurde das Werk in einer Weise hergestellt, daß es unter den Alpenstraßen mit in erster Reihe steht. Es giebt nichts Groß artigeres als die hcchgcthürmten Mauerwindungen, auf denen die Straße durch das Thal Tremola gleich einer endlosen Riesenschlange über einander geschich tet ruht.' Steigt inan von Airolo aufwäns, so meint man die Bastionen eines bis an die Wolken sich erhebenden Festungswerkes vor sich zu sehen, und erst nachdem fünfzig solcher ch.lopisch aufge- mauerten Windungen zurnckgelegt sind, steht das kleine Hospiz in der dunkeln Felscneinöde vor den Blicken. Und gar eist die kühnen Brückensprengungen über Schluchten und tosende Gcbirgswasscr, dicGal- lerien zum Schutze gegen Lawinen! Ihr Bild cnt- weichtK'cinem, der sic ,e gesehen, aus der Erinnerung. Im Sommer entwickelt sich ans diesen Hoch straßen ein bunt bewegtes Leben, so daß man oft meine» könnte, sich auf dem Markte einer großen Stadt zu befinden, statt an der Grenze der Schnee regionen. Da ziehen Gruppe an Gruppe die Trach ten derWelt vorüber, und das Sprachgewirr, das sich manchmal zwischen den urweltlichen Stcintrümmcrn hören läßt, muß unwillkühilich an die Sage vom Thurmbau zu Babel erinnern. Von der Mitte des Septembers an fängt cs aber an stiller und ein samer zu werden, und bald 'sicht man außer ver einzelten Fußwandercrn nur noch die Postkutsche, einen Frachtwagcn oder auch eine Viehherde Les Weges ziehen. Die Luft wird kalt und schneidend. Der Schnee steigt Nacht nm Nacht tiefer über die Fclseukämmc herab, bis, oft schon im October, der Paß für Fuhrwerk geschlossen ist. Die Straße ist mit einer 0 bis 8 Fuß hohen Schncelaze bedeckt, die sich im Laufe des Winters wohl noch verdoppelt. Nun beginnt das Werk der Rntner, zahlreicher vom Staate bezahlter Straßenarbeitcr, deren Auf gabe darin besteht, Len Paß wenigstens für Schlitten offen zu erhalten. ES ist ein eigcnlhümliches Volk lein, Liese Ruiner, zu dem nur die kräftigsten Gcbirgsnaturen gehören. Ihre Abhärtung gegen die grimmige Gewalt des Alpenwinters streift an das Fabelhafte, und wer sie nie bei ihrer Arbeit gesehen, wird sich schwer einen Begriff von ihrer Krafc und Gewandtheit, wie von dem Spürsinne machen können, mil dem sic drohende Gefahrcn recht zeitig zu entdecken vermögen. Ist nun del Schnee fall cingctceten, der nicht mehr mit Schaufeln und Rechen bewältigt werden kann, so wird die „Verleite" gelegt. An einen Bahnschlittcn werden zehn bis zwölf Ochsen, einer hinter den andern, gespannt, deren vordersten ein Hauptrutner, der „Vorleiter", in den oft stürmisch bewegten Schnceozcan hinein führt. Hinterdrein gehen die mit Hacken und Schau feln beladenen Rntner in einzelne Gruppen vertheilt, jede unter besonderm Eommando, die den leichten Bahneinschnitt tiefer legen, auswcrfen, festcretcn und zu seinem Schutze aufbciden Seiten hohe Schnee mauern aufwerf?n. In diese werden an geeigneten Stellen Einbuchtungen, „Ranke", angebracht, damit sich begegnende Schlitten einander aus weichen können. Diese ganze Arbeit ist ebenso gcfahr- als mühevoll- da oft die Straßenrichtung an Stellen, wo schon ein einziger Fehltritt Verderben bringt, nur nach weit von einander entfernten Fclsenspitzen be rechnet werden kann oder geradezu errathen werden muß. Gleichwohl kommen bei der Vorsicht, Ge« wandtheit und genauen Ortskenntniß der Rutner nur wenig Unglückssälle vor. Ist nun die Bahn gelegt und der Weg wieder offen, so können die Reisenden, die zu beiden Seiten des Gebirges, wohl auch auf der Höhe desselben im Hospiz oft Tagelang aus Erlösung hatten warten müssen, ihren Weg weiter fortsrtzcn. Die großen Postschlitten oder Wagen, die bis Airolo oder Andermalt gefahren waren, werden verlassen und