- 3 - Michael stieß mit der Schuhspitze einen kleinen Stein vor sich her. Er dachte: Bin ich wirklich bockig, uneinsichtig? Bockig - das war ein Lieblingsausdruck von Eva, wenn sie ihn von etwas überzeugen wollte, was er nicht einsehen konnte. Dabei hatte sie eine Art, ihm über den Kopf zu streichen, daß er selten widersprechen konnte. Als sie ihn das letzte Mal bockig nannte, konnte sie ihn nicht streicheln. Da waren Menschen dabei. Und sie war ihm so fremd in ihrer Würde als Richterin. "Seiten Sie doch nicht so bockig, Angeklagter!” Die zwei Briefe, die er nicht beantwortete, hatten das übrige dazugetan. Dann schwieg sie, ein halbes Jahr lang. Sechs Mo nate sind eine lange Zeit, wenn man auf einen Brief wartet, den man nicht annehmen will, aber annehmen könnte - falls er käme. Nur: sie schrieb nicht mehr. Das kann nicht sein, daß sie alles vergessen hat. So etwas kann man nicht vergessen. Höchstens die Gedanken kann man sich daran verbieten; aber auch Gedanken gehorchen nicht immer. Sie kommen wieder, in Nächten, an langen eintönigen Arbeits tagen, zu ungelegensten Augenblicken. Wie wird das sein, wenn ich zu ihr ins Zimmer trete? Wird sie fremd und kühl im Türrahmen lehnen und fragen: ”Was willst du noch von mir?” Oder wird sie mit hängenden Schultern dastehen, den Blick leer vom vielen Weinen? Das wäre eine neue Schuld, die zu seiner anderen hinzukäme. Wer kann Tränen bezahlen? Vielleicht begegne ich ihr auch im Hausflur. Sie kommt am Arm eines Mannes die Treppen herunter und sagt: ”Guten Tag, bist du schon entlassen?”