6 Oder ist sie nicht vielmehr eine heilige Ver pflichtung tugendhafter Mädchen? - Ich schweige, und überlasse es Dir, diesen Gedanken auszu bilden. - " Drapierend ist für mich die Gleichzeitigkeit, mit der Heinrich von Kleist seine Schwester als gleich berechtigte Persönlchkeit empfindet und mit der er durch altklug-autoritäres Moralisieren deren Wurzeln bekämpft. Es ist aber nicht das Ziel dieser Arbeit, die von Heinrich von Kleist geführte Polemik gegen die Argumente der Schwester zu werten. Ich möchte vielmehr deutlich machen, in welche Richtung die von Ulrike geäußerten Überlegungen gehen. Ihre Vorstellungen über Eelbstverwirklichung, persönliche Unabhängigkeit und Souveränität zielen deutlich auf die männlichen Privilegien. Ulrike besteht offensichtlich, das scheint mir auch durch Überlieferungen belegt zu sein, auf Rechte, die zu ihrer Zeit beinahe ausschließlich den Männern vorbehalten waren: Das Recht auf Bildung, das Recht zu reisen usw. Über eine Positionsbestimmung gibt leider nur der Brief Kleists vom Mai 1799 Auskunft. Heinrich von Kleist kommt ihr in diesem Brief, sicher ungewollt entgegen, wenn er schreibt: "Ein freier denkender Mensch bleibt da nicht stehen, wo der Zufall ihn hinstößt; oder wenn er bleibt, so bleibt er aus Gründen, aus der Wahl des Besseren." Den "Menschen" in diesem Sinne, nämlich der Schwester, wird Heinrich von Kleist später, im Jahre 1811, seiner Anerkennung versichern, obwohl, oder gerade weil sich beide zu unterschiedlichen Positionen entwickeln werden. Daß Ulrike auf ihrer persönlichen Unabhängigkeit besteht, und materiell ist sie dazu in der Lage, entspringt ihrem Wunsch, sich universell auszubilden, wie der Bruder zum Beispiel, dabei sieht sie ihre einzige Chance im Verzicht auf ihre Weiblichkeit.