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54 folgenden Lag? Warum bin ich nicht getrost, wie sie? Warum vertraue ich nicht meinem Gott? Klei det er nicht die Lilien des Feldes? Halt er nicht unsere Tage in seiner Hand? Zwar bin ich von der Welt und den Menschen verlassen und weiß nicht, welcher Rabe mir und den Meinigen heute Speise bringen wird, — aber doch werde ich nicht sterben, sondern ferner leben und ferner athmcn! Hoff, o du arme Seele, Hoff und sei unverzagt! Gott wird dich aus der Höhle, Da dich der Kummer plagt. Mit großen Gnaden rücken,., Erwarte nur die Zeit: So wirst du schon erblicken, Die Sonn' der schönsten Freud'. Auf, auf! Gicb deinem Schmerze Und Sorgen gute Nacht; Laß fahren, was dein Herze Betrübt und traurig macht!" So sang der Ermuthigte und hätte wahrschein lich noch weiter gesungen, wenn ihm nicht eine sremde glockenhelle Stimme einen guten Morgen zugerufen. Der Sänger blickte nach der Gegend hin, aus wel cher der Zuruf erscholl, und stand wie festgezaubert bei dem Schauspiele, das sich ihm darbot. An den Wellen des Bachs, der am Wege- dahin murmelte, saß nämlich eine weißgekleidete Mädchengestalt und badete die wunderniedlichen kleinen Füße, die rund und voll und weiß wie Marmor den Leineweber anleuchteten, daß er sich nicht erinnern konnte, je etwas Schöneres gesehen zu haben. Ehe er sich von seinem Staunen erholen konnte, stand die schöne Fremde schon vor ihm und sprach mit der wohl lautendsten Stimme, die er jemals gehört hatte: „Du sangst da eben ein schönes Lied, das so recht für Bekümmerte gemacht ist. Möge Jedem, der es in seinem Unglück singt, die Hilfe so nahe sein, wie Dir, denn wisse, Du bist zur glücklichen Stunde dieses Weges gekommen. Nur einmal im ganzen Jahre ist es mir erlaubt, hier an dieser Stelle zu weilen, und wer mir da begegnet, und es verdient, wie Du, den mache ich glücklich, wenn ihn Reich thum glücklich machen kann. So höre denn: Wenn die Mitternachtsglocke die zwölfte SMn8e verkündigt, so verlaß Deine Hütte und geh schweigend den Berg hinan, auf welchem die Trümmer der alten Burg Osterode stehen. Zwischen den eingesunkenen Mauern wirst Du eine Blume erblicken, die pflücke Du ab und sogleich wird Dein Auge also die Schätze er schauen, welche der Schooß des Burgberges ver birgt, und von welchen Du nehmen magst, so viel Dir beliebt. Jetzt gehe Deines Weges und bringe Deinem treuen Weibe Trost und Hoffnung. Meine Zeit ist verronnen." Der Leineweber hatte kaum Zeit gehabt, die schöne schlanke Gestalt mit dem blassen, lieblichen Antlitz, der durchsichtigen, feinen, wie aus Mond licht gewebten Haut, dem großen, blauen schwer- müthigen Augenpaar und den langen, goldenen Locken, recht zu betrachten, als sic schon seinen Au gen auf unbegreifliche Weise verschwunden war. Wunderbar ermuthigt, setzte er seinen Weg fort, denn oft schon hatte er von Freunden und Bekann ten erzählen hören, wie oben in den wüsten Trüm mern der alten Burg eine schöne stille Jungfrau Hause, die zuweilen den Menschenkindern erscheine und sie nur selten unbeschenkt entlasse. Mit frohen Hoffnungen näherte er sich der Hütte, in welcher sein bleiches Eheweib mit dem Häuflein der Kinder bereits ungeduldig seiner Rückkunft cntgegengeschcn hatte. Er erzählte. Die Kranke staunte und beide vergaßen ihr Elend und harrten der Stunde, mit welcher eine neue schönere Epoche ihres Lebens be ginnen sollte, ein Leben voller Lust und Sonnen schein. Mit bleiernen Füßen schlich die Mitternacht endlich herbei und der Leineweber erhob sich, um bei dem ersten Schlage der Thurmuhr auf dem Platze zu sein, drückte noch einen Kuß auf die blassen Lip pen seines Weibes und wanderte hoffend und bangend hinan. Es war eine herrliche stille Nacht. In der Tiefe der Landschaft schlug die Wachtel im Wcizen- felde. Man hörte deutlich in der Ferne die Räder der Mühle rauschen. Der Vollmond schien tageshcll am wolkenlosen Himmel. Die malerische Ruine der Burg setzte sich dunkel ab gegen die tiefblaue Lust, nur die Zinnen des hohen, einsam sich erhebenden Thurmes erschienen im Lichte der Sommernacht magisch versilbert. Noch hatte der einsame Wanderer die Hälfte des Burgberges nicht erreicht, als die Uhr der Stadt bereits die zwölfte Stunde verkündete und mit ihrem dumpfen feierlichen Schalle das Herz des Leinewebers elektrisch durchzuckte. Die Glocken schlage in der Nacht haben etwas eigen Rührendes, Ergreifendes. Ach, wenige schwärmend Fröhliche ausgenommen, dringen sie ja nur in das Ohr des Unglücklichen. Dem leidenden Kranken, der das Licht