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50 Diese entzückende Lady — eine Lady mindestens mußte sie sein — fesselte mich immer mehr. Sie war in der Thal sehr reizend, zwar nicht groß, aber ein kleines, weibliches Wesen gilt in meinen Äugen eben so viel, als eine Scmiramis oder Dido. Ich wünschte sehnlichst, ihre Bekanntschaft zu machen. Sie schien mir ein wenig traurig und ich vermutherc, daß irgend ein geheimer Kummer ihr Herz bedrücke, den Freundes Thcilnahme lindern könne. Wäre ich bestimmt, die Thräncn so schöner Augen zu trocknen, sagte ich zu mir selbst, welches Glück! Drei bis vier Abende wan delte ich ehrfurchtsvoll in ihrer Nahe, kaum sie anzu blicken wagend, und weit entfernt, ihr zu folgen, um an ihrer Seite zu gehen. Man ist schüchtern, wenn man sich gefesselt fühlt! Endlich kam mir der Zufall zu Hülfe. Ich ging an ihr vorüb^ und war kaum zwei Schritt von Milady entfernt, als ich bemerkte, daß sie ein kleines Buch mit goldncm Schnitt verloren, in welchem ich sie öfters hatte lesen sehen. Mich zu ihren Füßen stürzen, das Buch ergreifen, den Titel betrachten, es der Dame mit jener höflichen Bewegung des Huts überreichen, die man jenseit des Kanals kau?' kennt, war das Werk einer Sekunde. Sie dankte ""er leichten Neigung des Hauptes, x,- iches Lächeln gm. -- " e..o sprach sie: „Ich bin Ihnen um so mehr ver pflichtet, als Poung mein Lieblingsschriftsteller ist, mein innigster Freund, mein treuester Begleiter." Die Bahn zu einer fortgesetzten Unterhaltung war zu glücklich gebrochen, als daß ich davon nicht hätte Nutzen ziehen sollen. Ich erinnerte mich, früher Poung's Nachtgedankcn in der Uebcrsetzung gelesen zu haben, und recilirte einige Stellen, um meiner Lady die ar tigsten Dinge von der Welt zu sagen, über zärtliche ^Seelen, die sich in der Betrachtung des Schmerzes und des Todes gefallen. — Die Dame vergoß einige Thränen, die ich in einem Thräncnkrng von gedie genem Golde hätte bewahren mögen. Sie antwortete mir mit der sanftesten Stimme, die ich je gehört: „Wie glücklich in diesem Jahrhundert lärmender Freuden und niedriger Orgien, einen jungen und schönen Gentle man, zumal einen Franzosen zu finden, der eine me lancholische Seele versteht!" Beim Himmel! das war um den Kopf zu verlieren. Endlich erhielt ich die Er- laubniß, ihr meinen Arm zu reichen, um unfern Spa ziergang fortzusetzen. Wir durchkreuzten lange Zeit die Alleen, welche die sechste Abendstunde in ein mysteriöses Dunkel zu hüllen begann. Meine schöne Unbekannte war uner müdlich; wahr ist cs freilich, daß sie ihren linken Arm ziemlich fest auf meinen rechten stützte und eben so wohl vor mir als zu meiner Seite ging. Doch wenn meine Füße bei dieser Art Gang sich nicht recht wohl befanden, so waren meine Augen desto mehr entzückt; denn nicht den unfruchtbaren Sand der Promenade Hallen sic zur Perspective, sondern zwei schöne glän zende Augen, eine züchtige Stirn, gleich der einer Vestalin, und den auf's Geistreichste geschwätzigen Mund. Nachdem wir uns eine Stunde lang unterhalten, bat mich Milady, sie zu einem Wagen zu begleiten; ich widcrsetztc mich, ich hoffte noch einige Augenblicke zu gewinnen, und beschwor sie um die Gunst, Ma dame nach ihrer Wohnung zurückführen zu dürfen; sie war unerbittlich und bestand auf der Trennung. Nachdem sie dem Kutscher einige Worte leise zu geflüstert, stieg sie in einen Fiacre; als der Schlag geschlossen, ries sie mir zu: „Morgen, mein Herr, Punkt vier Uhr, in unserer Allee." . Sie zog ihre Uhr: „Mein Gott, wie spät es ist! was wirk meine Mntter sagen?" , , „Ihre Mutter? So sind Sie nicht''HciRiahlt?" „Witwe, mein Herr, seit zwei Jahren. Morgen also um vier Uhr. Wollen Sie vielleicht Ihre Uhr nach der meinen stellen? Bei mir fehlen sieben Mi nuten an sieben Uhr." Der Fiacre brauste davon. Ich wollte nach mei ner Uhi» sehen und sie nach der der anbetungswürdigen Witwe stellen. Keine Uhr. Den folgenden Tag fand ich mich um vier Uhr in Hyde-Park ein; die Witwe kam nicht; ich war bestohlen! — Treuloses Albion! Der Leser weiß nun, wie ich vor meiner Abreise von London von meiner Uhr und einem ansehnlichen Theile meines Reisegeldes befreit wurde. Es blieben mir etwa zehn Louisd'or in Golde, als ich nach Portsmouth abrcistc, in der Absicht, das Zeughaus von Spithead zu besehen. Mein Freund Ben kam, der Skeptiker, begleitete mich. Nachdem wir aus dem Zcughaufc zurückgckchrt, sage ich während des Mittagsmahls zu Bentam: „Bentam, ich habe einen glücklichen Gedanken für den morgenden Tag." „Ich höre," sagte Bentam, indem er behaglich ein Glas Porter ausschlürft. „Kennst Du die Insel Wight, Bentam?