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Die Volksdichtung Ein Hausbuch Uber sächsische Mundartdichiung von Albert Zirkler Gar manchmal könnten wir in der jetzigen Zeit mildem Dichter wehleidig ausrufcrm „O wie ist es kalt geworden, und die Sonne scheint nicht mehr!", wenn wir sehen und erkennen mässen, wie ge- mütsarm doch die Menschen heutzutage sehr ost sind. Derrücksichts- lose Alltag läßt sie nur zu leicht an den wirklichen Gemiitswertcn unseres Volkes voräberrasen und die „moderne Kunst" mit ihren Schlagern und geistlosen Witzen ist nicht geeignet, sie zu dem guten Alten zurückzuführen, das ihnen in Vätersitte und -brauch als ein ewig wertvolles Erbe hinterblieb. Es bedeutet hier nicht Rückschritt und Stillstand, wenn jene Gemiitswerte, die aus dem Volke hrraus sich in jahrhundertelanger Entwicklung gestalteten, auch weiterhin gepflegt und belbehalten werden. Seien wir einmal ganz ehrlich. Wie ost wird beispielsweise die prächtige, farbenfreudige Dacht der Wendinnen und Spree wälderinnen gelobt und gepriesen; ober getragen wird sie von den jungen Damen des Landes nur wenig. Die Trachten sind höchstens noch fär Theatersplele und Umzüge gut, im übrigen will man doch nicht hinter dem mehr oder weniger nüchternen Kleidchen der Stadt dame zuriickstehen. Man schämt sich. So wie den Trachten geht cs den Mundarten. Man lobt die Mundart, wenn sie aus der Bühne des Dolkstheaters laut wird und sich schließlich bei Witz und Verulkung hergibt, recht schnurrig zu wirken Kommt aber einer daher, der sie tagsüber im Umgang mit seinen Mitmenschen spricht, dann stellt man meist wenig hoch schätzend fest, daß er „vom Dürfe" ist. Welche tiefen Gemiitswerte jedoch in ihr ruhen, das wissen nur die wenigsten Menschen, manch mal sogar nicht die, die sie sprechen. Ist es nicht beschämend, wenn wir die Mundart ebenso behandeln, wie die zum Schaustück gewor dene Tracht, wenn wir ihr auf der einen Seite das Lob der Eigen art spenden und auf der anderen Seite uns kaum darum sorgen, ob sic am natürlichen Leben bleibt? Wir dürfen mit Recht sagen, daß Mundart und Hochdeutsch zwei verschiedene Sprachen sind, von denen die Mundart die ältere und aus der Natur herausgeborene ist. Das Hochdeutsch läßt sich wohl in der Schule lernen, die Mundart nicht; sie kann nur ge pflegt werden, wo sie schon vorhanden ist, wo sie der Zungenschlag des Menschen bereits von Jugend aus zu beherrschen weiß und — was noch wichtiger ist — wo das Gemüt mit ihrem inneren Werte von Kindheit an mit ihr verbunden ist. Den Wert der Mundart erkennen wir aber erst dann am aller besten, wenn wir einmal Gelegenheit haben, die verschiedenen Mund arten eines Landes im Vergleich angeführt zu sehen. Dieses hohe Verdienst hat sich neuerdings Albert Zirkler er worben, indem er mit seinem Hausbuch sächsischer Mund- arten, das im Verlage der Diirr'fchen Buchhandlung in Leipzig erscheint, einen guten Überblick gewährt. Albert Zirkler, entschieden ein Berufener aus diesem Gebiet, hat dieses Werk für Schule und Haus, für die wandersrohe Jugend und für die Freunde der Heimat zusammengestellt. Zunächst liegt uns der erste Band dieses deppelbändigcn Werkes vor Er verdient bestimmt, daß wir ihn uns ein wenig näher betrachten, zumal auch die Lausitz sehr reich vertreten ist. Der Preis stellt sich geheftet auf 6,30 Mk., gebunden auf 8 Mk. Geschmückt mit einer Radierung von Paul Sinkwitz-Ebers bach und ausgestaltet mit einer Mundartkarte von Prof. Dr. Alfred Meiche sowie einigen Singwctsen bietet dieser erste Band „Die Volksdichtung" einen großartigen Überblick über die verschiedenen Mundarten des Sachsenlandes. Sehr beachtenswert und tiefschür fend ist die Einführung in das Werk, die sich mit den Mundarten und der Volksdichtung befaßt. Zirkler begnügt sich nun nicht mit einer nüchternen und trockenen Nebeneinandeistellung der einzelnen sächsischen Mundarten. Erbringt vielmehr tief in das Wesen der Dialekte ein und vergleicht sie in ihren verwandten Lharakterzügcn, Eigenarten und Formen. Von der Kinderdichtung geht Zirkler aus und zeigt, von den Kleinsten anfangend, nach der Einteilung der Jahreszeiten, wie die Alten für das Gemüt der Kleinen in hohem Maße sorgten. Groß ist die Auswahl an Kinder reimen, Kinderliedern und lustigem Sing-Sang, von der Wiege an in den Frühling, den sonnigen Kindersrühiing hinein bis zur trauten, stimmungsvollen, geheimalsdurchwobenen Weihnacht. Dazwischen liegt eine Fülle herrlichen Gutes, angeregt durch das kindliche Gemüt. Dann aber wieder gewährt uns Zirkler einen Einblick in die Poesie, die aus der Kinderbrust selbst entsprang und die abzu lauschen wirklich lohnt. Niemand kann sagen, wer als Einzelner ihr Schöpfer war. Sie ist da und wird hoffentlich noch recht lange weiterleben. Einen Schritt weiter führt die Spruchdichtung. Sie ist wesentlich ernster im Inhalt und entspringt den verschieden sten Quellen, mögen sie nun Lebenserfahrung, Lebensweisheit, Spötterei, Neckerei, Schlauheit oder gar die Stimmung einer frohen, geselligen Stunde heißen. Sie trägt sehr deutlich die Merkmale und Eigenarten des Volkscharakters, der der betreffenden Mundart zu Grunde liegt. Meist ist sie eng mit der Scholle verbunden und wurzelfest. Von ihr unterscheiden sich wesentlich die Volkslieder und Bolksreime. In ihnen verkörpert sich eines der wertvollsten Güter des Volkes. Ihr Klang läßt in jeoem Herzen, das ihnen verwandt und angetan ist, volle Saiten kräftig Mitschwingen. Brauch und Sitte, Sorge des Alltags und Freude an den Festen spiegeln sich in ihnen tau sendfältig wieder. Sie sind das Bindeglied von Geschlecht zu Ge- schlecht, das berufen ist, altes Stammeserbe, Bätersitle und guten alten Brauch weiter leben zu lassen und deren Schönheiten immer und immer wieder zu betonen und im Herzen ausleben zu lassen. Ob sie freudig oder wehmutsvoll gestimmt sind, aus allen spricht ein tiefes reines Gemüt, das nicht mit Golde ausgewogen werden kann. Die Lausitzer haben verschiedentlich Gelegenheit gehabt, zum Beispiel die herrlichen alten Tanzlieder bei Volkstänzen der „Thalia"- Reichenau zu hören. Der Wahrheit und Dichtung, die sich an Geschichte und Erleben des Volkes anknüpfen, entsprechen jedoch die Sagen und Märchen. Auch sie sind ein Kleinod im Volkstum. Wenn sie, wie dies ost geschieht, nur als Unterhaliungsstoff für die Jugend betrachtet wer- den, so ist das entschieden ein Unrecht. Freilich wird auch der Jugendliche an ihnen Gefallen finden, aber dem reifen Menschen bedeuten sie nicht selten eine Sammlung und Einkehr im Gemüt. Nur der wird recht innig in ihr schönes Geheimnis eindringen kön nen, der sich noch ein für sie offenes Herz und einen warmen Sinn bewahrt hat. Mit kühlem Kunstoerstand und der Hast und Eile unserer Zelt dürfen sie nicht gemessen werden. Sie wollen Muße, Andacht und Vertiefung. Mag das alles noch so seltsam und für manches Ohr gar schwärmerisch klingen, es ist und bleibt doch Tat sache. Und warum bedeutet das Märchen gerade für das Gemüt der Jugend so unendlich viel Wertvolles? Weil beim Kinde eine reiche, lebhafte Phantasie, eine fast unbewußte Mitgestaltungskrast und ein tiefes Miteileben, frei von der nüchternen Wirklichkeit und der Abwägung der Möglichkeit, darin ausgehcn. Von den Alten braucht sich keiner zu schämen, wenn er sich dieses Gut im Innersten seiner Brust bewahrt hat. Von dieser Gestaltungskraft, die im Volke weit mehr als be wußt schlummert, zeugen in noch ausgeprägterem Maße die Volksschaüspiele. In erster Linie herrschen hier die geistlichen Spiele, die fast durch weg die Geburt Christi im Mittelpunkte haben, vor. Sie schaffen dem Volke in der Aüventszeit jene herrliche Vorfreude auf das Fest selbst, die' eigentlich das Schönste am ganzen Wcihnnchtsseste ist. Die Hirten, die drei Könige, die Engelscharen und selbst die Christ bescherung spielen dabei die Hauptrolle. Die Weihnachtsspiele sind vor allem im Erzgebirge und Vogtlande sehr in Blüte. Die Lausitz ist hier nicht vertreten. (Neuerdings haben Wilhelm Friedrich, Reichenau, und Dr. Stübler, früher Bautzen, ein Weihnachtsspicl und ein Krippenspiel geschaffen, von denen allerdings nur das erste in den Rahmen der Mundartdichtung fällt. Anm. d. Vers) Als eines der ausgeprägtesten gibt Zirkler die vogtländische „Christ- Lomoedie" von Magister David Trommer wieder, die aus dem Jahre 1670 stammt. Eine Anzahl Singweisen vervollständigen das Werk und tragen besonders dazu bei, die alten schönen Volksgesänge wieder ausleben zu lassen. Außer den von Prof. Dr. Meiche aus seiner Karte eingezeich neten fünf Hauptmundarten Sachsens, dem Osterländisch, dem Dogt- ländisch, Erzgebirgisch, Meißnisch und Lausitzisch, führt Zirkler noch eine große Zahl Unterarten, Übergangsarten und auch die jenseits der politischen Grenzen liegenden Mundarten an, die noch an das alte große Kurfürstentum Sachsen erinnern. Bei der großen Fülle des Stoffes war es natürlich nicht anders möglich, als von den verschiedenen Dialekten in entsprechendem Maße Proben zu geben, je nachdem wie die einzelne Art der Dichtung bei ihnen vertreten ist. Die Lausitz ist zunächst durch Rudolf Gärtner und Friedrich Sieber vertreten. Pros. Dr. Curt Müller, Löbau, stellt seine umfangreiche, in langen Jahren zusammengelragenr