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Das Märlein vom Frieder und der Carola Von Gustav Wolf-Weifa Der sommerliche Nachtmind war wie ein leichter Hauch. Nur ab und zu raschelte der Birnbaum an meinem offenen Kammerfenster. Ein paar Zweige lehnten sich in den Rahmen, und gegen den Hellen Nachthimmel erschienen Blätter und Geäst wie Silhouetten. Ich sah und hörte das alles wie im Dämmertraum, halb wachend, halb im Schlaf, und wohlig berauschend stieg der Heuduft von den Wiesen zu mir herauf. Ich weiß nicht, wie lange ich so gelegen haben mochte, da saß plötzlich — mit seinen dürren Beinchen baumelnd — das Birnenmännchen auf dem Fensterbrett, zwinkerte mich verschmitzt mit seinen Äuglein an, nannte mich einen Milchbart und fragte, ob ich denn die Geschichte von dem alten Birnbaum kenne. Da ich mich gar nicht besinnen konnte, sondern nur wußte, daß er schon in meiner Groß mutter Tagen ein alter Baum gewesen, fuhr es fort: „Hat dir denn deine Großmutter niemals vom Frieder und der Carola erzählt?" Und da ich ein gar dummes Gesicht ge macht haben mochte — denn mir war wirklich alles so neu, wie einem Mädchen die erste Liebe — fragte das Männ lein wieder, ob ich ihm zuhören wolle. Es sei heute die Johannisnacht, und da müsse es jemanden aufsuchen, um mit ihm zu plaudern. Ich meinte, ich hätte nichts dagegen und horchte nun, daß ich jedes Wort verstehen konnte, und das Männlein begann: „Als dein Großvater das Haus von der Gemeinde kaufte, war es eine halbverfallene Strohhütte. Zuletzt hatte es lange Zeit ganz leer gestanden, und zuvor hatte der Frieder drin gewohnt. Nach ihm war es in den Besitz der Gemeinde gekommen, weil keine Verwandten da waren, die ihn hätten beerben können. Am andern Rande der Wiese aber, wo heute die vielen großsternigen Marguerite» so weiß leuchten und die dunkelblauen Glockenblumen blühen, stand damals ein ähnliches Häuschen, das der alten Kräuterjule gehörte. Die Jule hatte so manches Kräutlein gegen böse Krankheit, konnte das Vieh besprechen, die Zukunft aus der Hand voraussagen und wußte auch das Geheimnis des Birnbaums, daß aller hundert Jahre einmal in der Jo hannisnacht goldene Früchte auf ihm wüchsen, und wer in dieser Nacht zur rechten Zeit auf den Baum stiege und sie pflückte, könnte dadurch das höchste Lebensglück gewinnen. Sie hütete das Geheimnis sorgfältig. Nur dem alten Nachtwächter, dem jungen Frieder und der Carola hatte sie's anvertraut. Die Carola — ein paar Jahre jünger als der Frieder — war ihr Pflegekind, das sie einst in einer so sternenhellen Johannisnacht wie heute an ihrem Garten zaun verlassen gefunden und aufs beste großgezogen hatte. Aber die Carola wurde ein eigentümliches Mädchen. Bald kannte sie die Kräuter besser als die alte Jule selbst und half ihr fleißig beim Sammeln. Gern ging sie auch mit dem Frieder, ihrem einzigen Spielgefährten, nach dem Walde, und die beiden trugen reichlich Beeren und Pilze ein. Das Merkwürdigste an Carola aber war, daß von ihrem Gesicht ein seltsames Leuchten ausging. Nicht, daß sie eine weiße Hautfarbe gehabt hätte oder gar eine unnatür liche Blässe, im Gegenteil, sie sah recht frisch und rotbäckig aus und war nicht selten tüchtig sonnengebräunt. Man konnte dieses Leuchten eigentlich auch niemals in der Nähe wahrnehmen, wohl aber um so stärker von ferne. Dann war es Heller, als wenn einem ein weißes Kleid in die Augen fällt, eben, weil es nicht nur eine einfache Hellig keit war, sondern ein eigentümlich strahlender Glanz, und deshalb waren wohl auch die Menschen ihr gegenüber so scheu. Die Jule glaubte, es sei der Widerschein der Sterne aus jener Johannisnacht, in der sie die Carola gefunden hatte. Ja, die Sterne! Vielleicht hatte sie gar nicht so un recht. Ein Sternenkind schien die Carola zu sein,' denn immer, wenn kaum die Sonne hinter den Wäldern ver schwunden war, schaute sie nach dem Abendhimmel. Dann schon sah sie die blinkenden Lichtlein, die gewöhnliche Menschen erst viel später wahrzunehmen vermögen. Lange und oft schaute sie so hinauf und konnte sie auch durch die Wolken sehen, und der große Abendstern war ihr der liebste. Am gleichen Tage, als der Frieder konfirmiert wurde, starb sein Vater und wenige Wochen nachher seine Mutter. Das war eine schlimme Zeit für ihn. Aber er fand sich durch, blieb in dem Häuschen, das ihm die Eltern hinter lassen hatten, und besorgte den Acker, der zu der kleinen Besitzung gehörte und reichlich für seine Ernährung aus langte und für die Ziegen und das Hühnervolk dazu. Gern ging ihm auch die Carola ein bißchen zur Hand, genau so gern, wie sie vorher mit ihm gespielt hatte. So vergingen denn die Jahre. Der Frieder hatte die Zwanzig überschritten, und die Carola mochte wohl sieb zehn Jahre zählen: das Alter, da sich junge Leute mit allerhand Liebesschmerzen die Zeit zu vertreiben pflegen oder gar schon anfangen, au den Brautstand zu denken. Die beiden aber lebten noch genau so einsam dahin wie in ihren Kindertagen. Niemanden hatten sie mehr als flüchtig kennen gelernt) denn zum Tanze gingen sie nicht und auch sonst nirgends hin. Ebenso versuchte von der anderen Seite keins, sich ihnen zu nähern,' sie galten ein wenig als Sonderlinge, wenn man auch — aus jener merkwürdigen Scheu heraus —nicht wagte, sie zu bespötteln. Ja — und auch gegeneinander blieben sie Kinder von früher, bis, — ja — bis zu der Johannisnacht vor hun dert Jahren. Dem Frieder war es zwar schon mehrfach ge schehen, daß ihm ein geheimes Verlangen überschlichen, — ein paarmal hatte er sich dabei ertappt, wie er der Carola länger als gewöhnlich nachgeschaut und alles andere dabei vergessen hatte, aber immer, wen" sie ihm dann ihr leuchtendes Antlitz mit den klaren Aurnn wieder zugekehrt hatte, war alles von ihm gewichen, und er hatte den überwundenen Zustand als ein Unrecht gegen sie und gegen sich selbst empfunden, das er aus eigener Kraft nicht ganz abzuschütteln vermochte, vor dem er eine geheime Furcht hatte und das er doch nicht hassen konnte. In der Johannisnacht jedoch kam cs mit Macht über ihn. Als sie da so stand und lange nach dem Abendstern schaute, konnte er sich nicht länger bezwingen. Nicht wissend, was mit ihm geschah, nahm er ihren Kopf zwischen seine Hände und küßte sie auf die klaren blauen Augen, auf die Stirn und auf den halbgeöffneten Mund. Er küßte.... Ja — was küßte er noch . . .? Die leere Luft? Wie der leise Svmmerhauch war sein Empfinden, wie ein Entschwinden und Hinsinken und dann, als ob etwas sich höbe und wie eine leichte Wolke entschwebte. Ent schwebte — dort nach dem Abendstern zu — so leuchtend . . Schließlich fand er sich unter dem alten Birnbaum im Grase liegend, und der Abendstern schien ihm voll Trauer und doch so unendlich gütig. Gerade durch das Blätterdach konnte er ihn sehen — und dort — gewiß! — ganz oben im Gezweig — täuschte er sich nicht? — die goldenen Früchte .... Doch, was nützte ihm dies alles! Wohin war sein Sternenkind die Carola. . . .? Nun war er schuld . . . .! O Gott! Aber die goldenen Früchte? Sollten sie nicht? Das Lebensglück? Wenn? Vielleicht — daß sie ihm Hilfe . . .? Und er nahm eine Leiter und stieg hinan, um von den Früchten zu pflücken. „Carola!" rief er und stieg immer