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Arbeitslosennöte in alter Zeit Lausitzer Weberelend im vorigen Jahrhundert Wer historisch geschult ist — und dem deutschen Volke geht nach Ranke der historische Sinn leider zu einem er heblichen Teile ab — der denkt über manche Erscheinung der Gegenwart anders und vor allem ruhiger als so mancher Heißsporn unserer Tage, der der naiven Meinung ist, daß man mit einigen radikalen Forderungen wirt schaftliche Zwangsläufigkeiten überwinden könne. Wer die Geschichte und vor allem auch die Geschichte unserer Lausitzer Heimat kennt, der weiß, daß so manche Erschei nung im politischen und wirtschaftlichen Leben der neueren Zeit keineswegs so neu ist, als es scheinen möchte, der mißt die Dinge mit dem Maßstab der historischen Erkenntnis und des geschichtlichen Vergleichs und kommt dabei zu der Erkenntnis, daß es über alles menschliche Wollen und Streben hinaus eherne ökonomische Gesetze gibt, die uns immer wieder vor neue und schwere Probleme stellten. Im Vordergründe des Wirtschaftslebens der Gegen wart steht z. B. das Problem der Arbeitslosigkeit. Der augenblicklich zu beobachtende Rückgang der Erwerbslosig keit darf uns nicht darüber Hinwegtäuschen, daß es sich nicht im geringsten um eine irgendwie grundhafte Lösung des Problems handelt. Es ist vorwiegend nur der Saison bedarf, der eine bessere Beschäftigung von Industrie und Gewerbe mit sich bringt, und die überaus erfreuliche An kurbelung des Wohnungsbaues, die das Baugewerbe be lebt und mit dieser Belebung eines Schlüsselgewerbes auch einen besseren Geschäftszweig für manchen anderen Ge- werbezwetg zur Folge hat. Die Grundursachen der deut schen Arbeitslosigkeit, Stockung der Ausfuhr und Ma schinenproblem, sind in keiner Weise behoben und sehen auch für die nächste Zukunft keiner irgendwie gearteten Lösung entgegen. In dieser Beziehung begegnen sich aber die Verhältnisse der Gegenwart mit der Zeit um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, besonders mit den Zuständen und Verhältnissen zwischen 1840 und 1850, dem ereignis reichen Jahrzehnt der deutschen Geschichte. Auch in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhun derts war eine Zeit allgemeiner Not, wirtschaftlichen Niedergangs und steigender Arbeitslosigkeit zu verzeichnen. Mißernten hatten Mangel und Teuerung gebracht, Handel und Wandel lagen darnieder, Konkurse und Zwangs-Ver steigerungen nahmen einen noch nie dagewesenen Um fang an. Die Textilindustrie des Erzgebirges und der Lausitz litt unter allgemeiner Absatzstockung und Beschäfti gungslosigkeit. Auch Währungsschwierigkeiten traten in recht unangenehmer Weise in Erscheinung, sodaß die Kreis direktion Bautzen sich energisch dagegen wenden mußte, daß „den Lohnwebern und andern Fabrikarbeitern bei Aus zahlung des Lohnes Goldmünzen zu erhöhtem Preis, österreichische Zwanzigkreuzer zu einem höheren als dem gesetzlichen Werte, ferner Eintalerstücke und andere Cou rantmünzen mit 12 Pf. Agio für den Taler angerechnet werden," sodann aber auch sogar der Lohn ganz oder teil weise in Lebensmitteln oder Waren unter Nötigung der Arbeiter und Weber verabfolgt werden. In Neukirch a. H. wurde unter dem Drucke der Not ein Unterstützungsverein ins Leben gerufen, dessen hauptsächlichster Zweck es sein sollte, „den armen Handspinnern dauernde Arbeit und einen etwas höheren Lohn zu verschaffen." In Schlesien hatte der wirtschaftliche Niedergang und besonders das durch die all gemeine Arbeitslosigkeit verursachte Hungerelend eine Typhuskatastrophe ausgelöst, die tausende von Menschen bahinraffte. Der Landesälteste der Oberlausitz erließ darum einen Aufruf zu freiwilliger Hilfeleistung, „damit für unsere Umgebung nicht ähnliche Szenen des Elends durch Sorglosigkeit zu einer Zeit, wo noch Hilfe möglich, ent stehen." Wörtlich sagt der Aufruf: Auch bei uns tritt die Not in der traurigsten Ge stalt vor unsere Augen, und hier ist noch eine Hilfe mög lich, da bei der verschiedenartigen Richtung der Ober lausitzer Fabrikation eine gänzliche Stockung der Ge schäfte nur in einem Teile derselben eintritt..... Nachdem die vorjährige Teuerung alle Hilfsmittel der Oberlausitzer Fabrikorte erschöpft, alle Kräfte der Privaten auf eine beispielslose Weise angestrengt und unglaubliche Entsagungen der mittellosen Weber er fordert hat, tritt jetzt die Not in der noch schrecklicheren Gestalt der Arbeitslosigkeit in den Kreis dieser Ge meinden ... In einzelnen Orten stehen viele hundert Webstühle gänzlich still und der übrige Teil der Weber hat größtenteils nicht volle Beschäftigung und gewinnt nicht soviel, um seine eigenen Bedürfnisse zu befrie digen, geschweige denn anderen abgeben zu können. Bei vielen und gerade den arbeitsamsten und recht lichsten Familien, die sich scheuen, zum Betteln ihre Zuflucht zu nehmen, sind Kleider und Betten ver kauft, selbst Gesangbuch und Bibel verpfändet, um nur den Hunger der Ihrigen zu stillen. Der Ausruf des Lanöesältesten wird durch die Bautze ner Kreisöirektion warm unterstützt. Es heißt da in der Erklärung des Kreisdirektors v. Kvenneritz: Die leider den ganzen Winter hindurch fühlbar gewesene Gewerbs- Stockung hat nur erst in der letzten Zeit einen bedrohlichen Charakter angenommen und in einigen Ortschaften die plötzliche Entlassung einer bedeutenden Anzahl Weber zur Folge gehabt. Sowie die König!. Kreisdirektion im Verein mit den ihr untergebenen Behörden diesen Erscheinungen ihre fortgesetzte Aufmerksamkeit gewidmet, so hat sie auch alsbald nach Eingang der traurigen Nachrichten aus Schle sien über den allgemeinen Gesundheitszustand Erörterungen veranlaßt usw. Des weiteren erging ein Aufruf von Be- hördenvvrständen »sw., in dem es heißt: Noch hat der Not stand in den Weberortschaften der sämtlichen Oberlausitz sein Ende nicht erreicht. Ist auch mit der gesegneten Ernte des vorigen Jahres (1847) die Teuerungsnot verschwunden, so ist doch der Arbeitsmangel nicht gehoben,' ja leider sind nur erst in den letzten Wochen neue Handelsstockungen eingetreten und hierdurch eine sehr große Anzahl Weber wieder außer Brot gesetzt worden. . . Die Hilfsmittel der Gemeinden selbst sind beinahe erschöpft usw. Die Steigerung der wirtschaftlichen Nöte veranlaßte die sächsische Regierung Anfang April 1848, allenthalben Bezirks- und örtliche Ausschüsse zu berufen, deren Aufgabe es war, die wirtschaftlichen Nöte zu beraten und Abhilfe maßnahmen vorznschlagen. Auch zu dem Hilfsmittel der Notstandsarbeiten griff man bereits damals in ausgiebigem Maße. Während heute vorwiegend Wege- und Schlcnsenbanten ausgeführt werden, waren es damals Eisenbahnbauten. In jene Zeit fällt ja die Errichtung der Hauptstrecken in unserem säch sischen Baterlande. Namentlich im Erzgebirge wurden Eisenbahnbauten als Notstandsarbeiten durchgeführt, die aber schließlich aus Mangel an Mitteln eingestellt werden mußten. So herrschte beispielsweise in den Märztagen des Jahres 1848 in Chemnitz große Anfregnng, weil 6000 bis 7000 Eisenbahnarbeiter entlassen werden mußten, „da kein Geld zum Fortbau mehr vorhanden war, indem nur ein Fünftel der 5 prozentigen Anleihe nnterzubriugen ge wesen ist." Geht man den Ursachen der damaligen Wirtschafts krise nach, so stößt man auf die schon erwähnten zwei Hauptmomente: Aussuhrstockung und Maschinenproblem. Der Ausfuhrhandel lag völlig darnieder, namentlich der Handel nach der Levante, der den Hauptabsatz aufnahm, stockte. Daneben warf das Maschinenproblein zum ersten Male seine großen Fragen auf. Die ersten Spinnmaschinen machten tausende von Handwebern brotlos. Der spätere beispiellose wirtschaftliche Aufschwung Deutschlands über-