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steht er eine unmittelbare, übernatürliche Einwirkung höherer Wesen, und in alle dunklen Geschehnisse versucht er eine pro phetische Bedeutsamkeit zu legen. Die Seele eines solchen Menschen ist nicht imstande, die Leere von einer nur auf Sinneswahrnehmunq und unseren Verstand aufgebauten Welt anschauung zu ertragen: und deshalb füllt der Mensch diese Leere nicht mit höheren Wahrheiten und Erkenntnissen, sondern mit Irrtümern aus, indem er zum Übersinnlichen seine Zu flucht nimmt. Die Abergläubischen zählen zu den beklagenswertesten unter den Opfern der Einbildungskraft. Tagtäglich werden sie von früh bis abends durch schlimme Zeichen erschreckt und durch die harmlosesten Geschehnisse, die für sie jedoch die schlimmsten Bedeutungen haben, gequält und gemartert. Kaum ist ein solcher Mensch, selbstverständlich mit dem linken Fuß zuerst, am Morgen aufgestanden, so sieht er schon, wie sich eine Spinne an ihrem Faden von der Zimmerdecke herab läßt; und: „Spinne am Morgen bringt Kummer und Sorgen". Überdies beginnt sich in seinem rechten Auge ein Jucken be- merkbar zu machen und beim Frühstück zerschlägt er eine Tafle, und nun weiß er, daß es im Verlaufe des Tages nicht an Arger und Verdruß mangeln wird. Als er kurze Zeit später sein Haus verläßt, begegnet ihm eine alte Frau. Kaum ist er ein paar Schritt weiter, da läuft ihm eine Katze von links nach rechts über den Weg. Jetzt ist das Maß voll; und mißmutig geht er an seine Arbeit. — Es gibt sogar heutzutage noch Leute, die in solchen Fällen viel lieber von einem wichtigen Vorhaben absehen und es auf einen anderen Tag verschieben. Wirft jemand beim Essen den Salznapf um, so heißt es, daß es Tränen geben wird. Einer ledigen Person, die an der Speisetafel über Eck zu sitzen kommt, spricht man eine böse Schwiegermutter zu; oder gießt man ihr in die noch nicht ganz ausgetrunkene Tasse zu, sägt man, daß die betreffende Person von der Zeit des Zugießens an noch sieben Jahre bis zu ihrer Verheiratung warten muß. Falls einmal jemand zum ersten Male zu einer Hochzeits- feier als Brautführer eingeladcn wird, bekommt er häufig den gutgemeinten Rat, sich vor dem Anziehen der Schuhe eine Prise Salz in jeden Schuh zu streuen. Dieses soll vor Be nommenheit oder Übelkeit schützen, die durch das „Anblicken" und „Berufen" der Zuschauer eventuell hervorgerufen werden könnten. Vielfach hört man, wenn sich ein Hund oder eine Katze „wäscht", die Worte, daß an dem gleichen Tage noch Besuch kommen oder jemand aus dem Hause fortgehen wird, je nach dem sich das Tier beim „Waschen" von der Zimmertür weg- wendet oder sich ihr zukehrt. Frißt ein Hund einmal Gras, wozu schließlich eine Magenverstimmung die Ursache ist, sagt man, daß es regnen wird. Sollte sich der Wettergott wirklich nach solchen kranken Tieren richten? Wenn es am Freitag regnet, heißt es: „Wie der Freitag, so der Sonntag". Regnet es aber gar am Sonntag vormittag zu der Zeit, wo die Leute zur Kirche gehen, dann soll es die ganze folgende Woche regnen. Stößt man sich beim Spazierengehen an den linken Fuß, so bedeutet das etwas Gutes, trifft es dagegen den rechten, dann muß man zurückgehen und noch einmal über die be treffende Stelle gehen, aber ohne zu stolpern, wenn man keinen Arger und Verdruß erleben will. Sieht man bei abendlichen Spaziergängen eine Sternschnuppe fallen, darf man sich etwas wünschen, was in Erfüllung gehen soll. Folgende Volksmedizin, so erzählt man sich sogar noch heut- zutage, soll bei Zahnkrämpfen der Kinder von unfehlbarer Wirkung sein: Man nimmt die Federn einer von einem Stößer zerrissenen Taube. Diese Taubenfedern darf man aber nicht etwa absicht lich suchen. Nein, sie müssen ganz zufällig gefunden werden, wenn sie von heilkräftiger Wirkung sein sollen. Diese Federn darf man nicht mit der bloßen, nackten Hand aufheben: viel mehr muß man sich dazu eines Taschentuches, Handschuhs oder sonstigen Hilfsmittels bedienen, das auf jeden Fall irgend- welche Berührung mit dem Fleisch der Hand verhindert. Hat man die Federn jedoch vom Erdboden weggenommen, so ist diese Vorsicht nicht mehr nötig. Dann darf man sie mit der bloßen Hand anfassen. Nur solange die Federn mit dem Erd- boden in Verbindung stehen, dürfen sie keineswegs mit dem Fleisch der Haut berührt werden, da sie dadurch ihrer Heil kraft verlustig gehen. Die auf solche Weise gefundenen und richtig aufgehobenen Federn behalten ihre heilende Wirkung viele Jahre lang. Leidet nun ein Kind an Zahnkrämpfen, so nimmt man eine dieser heilkräftigen Taubenfedern, brennt sie, zerreibt sie zu Pulver und mischt dieses Pulver mit Zucker. Diese Mischung gibt man dem Kinde ein, und daraufhin soll das Kind nach neun Tagen von den Krämpfen befreit sein. Tritt keine Besse rung ein, sind die Federn nicht zufällig gesunden oder vor- schriftsmäßig behandelt worden (!). In ähnlicher Weise spricht man dem Osterwasser eine außer- gewöhnliche Heilkraft zu. Viele Leute holen am ersten Oster- seiertage in aller Frühe, noch bevor die Sonne ausgegangen ist, einen großen Krug Quellwasser, das sie mehrere Wochen lang sorgfältig aufbewahren. Dieses Wasser soll sich sehr lange frisch erhalten und nur schwer, erst nach mehreren Wochen, verderben. Bei irgendwelchem Ubelbefinden soll sofortige Besse- rung eintreten, wenn man sich mit solchem Wasser wäscht. Blutungen sollen damit gestillt, zum mindestens aber gelindert werden. Dieses Osterwasser soll ein Universalmittel bei allen nur denkbaren Leiden, wie Gicht, Rheuma, Hautausschlägen usw. sein. Sehr viele Leute essen das letzte Brot, wenn sie kein anderes mehr im Hause haben, nicht gänzlich auf, sondern lassen ein kleines Stückchen übrig. Ist neues Brot geholt worden, darf das übriggelassene Stückchen aufgegessen werden. Der Zweck dieses Brauches ist der, daß das Haus niemals ohne Brot, dem wichtigsten Nahrungsmittel, sein soll. Außerdem findet man heute noch alte Leute, besonders unter den ärmeren, die auf der Unterseite eines jeden neuen Brotes, bevor sie es an schneiden, mit dem Messer ein Kreuz schlagen. Dadurch soll das so geweihte Brot sparsamer verbraucht werden und etwaig kranken Menschen Gesundheit bringen. Eine ganz besondere hohe Bedeutung haben in unserer Lau- sitz die sogenannten Versprechungen. Leidet jemand z. B. an Hühneraugen, Warzen, Frostbeulen oder sonstigen Übeln, so nimmt er bei abnehmendem Mond irgend etwas, das leicht in Verwesung übergeht, wie einen Apfel, eine Zwiebel oder eine andere Frucht, bestreicht damit den kranken Körperteil und vergräbt dann die Frucht unter einer Regentraufe. Während des Bestreichens werden vielfach einige Worte gesprochen, wie „Im Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heili gen Geistes sollst du (das Übel) abnehmen, wie der Mond ab nimmt, und vergehen, wie dieser Apfel (bezw. andere Frucht) vergehen wird!" Das Übel soll sich von der Versprechung an täglich in dem Verhältnis verringern, als die Scheibe des Mondes kleiner wird und die vergrabene Frucht verfault. Nach einigen Wochen soll das Übel gänzlich verschwunden sein. Sollte jedoch das erste Versprechen einmal nicht die erwartete Hilfe gebracht haben, so wird das Versprechen so oft wiederholt, bis eine Besserung eintritt. In Halbau, am Fuße des Hochsteins, soll im vorigen Jahr hundert ein Mann gelebt haben, von dem man sich noch heute erzählt, daß er durch seine Versprechungen eine außergewöhnliche Macht über Krankheiten aller Art gehabt hätte. Als einstmals im Walde Holz gefällt worden ist, soll sich einer der Arbeiter in den bloßen Arm gehackt haben. Zufällig war der „Ver sprecher" in unmittelbarer Nähe. Da nun das Blut unaushalt- sam aus der Wunde quoll und selbst durch die umgelegten Verbände sickerte, rief man den „Versprecher" herzu, damit er das Blut durch Versprechen stillte. Dieser kam und nahm den Arm in seine Hände. Mit zum Himmel gewandtem Antlitz