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Görlitz Bon Egon-Erich Albrecht Jahren wieder zum ersten Mal kam ich in die liebe, alte Stadt, in die Stadt meiner schönsten Knabenjahre. Es war schon tief in der Nacht, als der Schnellzug in den Bahnhof, der größer und WWW schöner geworden war in den Jahren meiner Ab wesenheit, einlief. Ich gab mein Gepäck ab und trat aus der hohen Wandelhalle auf den Borplatz hinaus. Ganz in Gedanken ging ich weiter und merkte plötzlich, daß ich mich in der Hauptgeschäftsstraße befand. O, wie ich sie hasse, diese Straßen, die sich überall gleich sind in Ost und West, in Süd oder Nord unseres Vaterlandes, und die nichts wissen von Stammeseigenart und Heimatcharakter! Schnett bog ich in die nächste Quergasse zur Rechten ein, und bald umfing mich wieder der Atem stillbürgerlicher und deutscher Straßen. Und dann lag der alte, weite Platz vor mir mit seinen schönen Anlagen, der Platz unserer tollen Knabenspiele. Vertraut grüßten mich die hohen, ernsten Kastanien, und drüben, ganz im Schatten: die Töchterschule (jetzt nennt sie sich wohl so schön deutsch und geschmackvoll: Lyceum!). Hier paradierten zu Ostern nach der Versetzung zuerst die nagelneuen Mützen, hier flogen sie in sorgfältig eingeübtem Schwünge von den Köpfen und senkten sich vor manch blondem, vor manch braunem Zopf . . ., hier huschte so manch verstecktes Grüßen von Auge zu Auge .... ja damals ... goldene Pennälerzeit! Weiter über den Postplatz mit seiner hohen Brunnen figur, vom Bolksmund treffend „Muschelminna" genannt, vorbei an Frauenkirche und „Dickem Turm", beide als liebe, alte Bekannte mit herzlichen Blicken begrüßend, hin zum ersten Ziel meiner Sehnsucht! Und nun bin ich da: das alte graue Kloster liegt düster und ernst vor mir wie eine Mutter so lieb und vertraut, wie eine Mutter, in deren Arme man immer wieder trostsuchend zurückkehren darf. Eine magnetische Kraft zieht mich zum Eingang hin ... das Tor ist verschlossen. Ich lehne mich an einen der alten Pfeiler, streichle ihn leise und träume wieder ... ich bin ja auch nur zum Träumen in die alte Stadt gekommen ... wie ein Volkslied, innig und schlicht, singt der Kloster brunnen seine leise Melodie, sie dringt in mein Blut und schwingt in ihm weiter fort ... ich bin wieder der Sex taner, der, noch ängstlich in der fremden Stadt, an der Mutter Hand zum ersten Male das graue Haus betritt, scheu und bang klopft sein kleines Herz, und die hohen Kreuzgänge wollen ihn schier erdrücken, Plötzlich steht ein großer, breiter Mann vor ihm, streichelt ihm übers Haar und spricht freundlich zu ihm. Nun ist er ganz drin im Getriebe der großen Schule, ein kleines Rädchen, aber doch ganz von seiner Wichtigkeit erfüllt. Und Helle Sommertage wechseln ab mit weißem, kalten Winter, auf frohen Sonnen schein folgt trübe und traurig Regen, viele hundert Mal geht der kleine Gymnasiast aus und ein im ernsten grauen Haus, bald mit frohem, bald auch mal mit bangem Herzen, er rückt auf von Klasse zu Klasse, die Mützenbänder wechseln ... er lernt hier die Freundschaft kennen, die Ehrfurcht vor allem Großen, Hohen, Schönen und Reinen zieht in sein Herz und macht ihn demütig vor dem gewaltigen Geschehen der Natur, Ideale stehen in leuchtender Kraft auf, verblassen, und andere treten an ihre Stelle, denen er Treue gelobt, und dann kommt der Tag, da er jubelnd hinausstürmt, der frischgebackene mulus, das Leben leuchtend in sonnigen Weiten vor sich... Ein übermütiges Lachen, klingend und hell, reißt mich aus meinen Träumen — zwei junge Mädchen, mit ihrem Liebhaber in der Mitte, gehen rasch vorbei, die Wangen noch heiß vom Tanz .. . ihre weißen Kopftücher tauchen unter im Dunkel der schmalen Gasse, ihr Schritt verklingt und ich bin wieder allein . . . langsam wende ich mich nach der anderen Seite, will am Brunnen vorbei durch den dunklen Torweg, da packen mich plötzlich zwei weiche, schmeichelnde Arme, ich kann nicht weiter, wie gebannt gehe ich hin zum stillen Brunnen in der Ecke, die so düster, so unheimlich aus- sieht und doch so süße Geheimnisse kennt, stütze mich auf seinen Rand und lasse langsam die Hand ins nachtkühle Wasser gleiten, das mattsilbern aufleuchtet im Schein des fahlen Mondes. Ebenso silbern und matt lag schon einmal das Licht des Mondes auf diesem Wasser... einmal vor langen Jahren, als noch keck die weißseidene Primaner mütze mir auf dem Scheitel saß. Nach einem Fackelzug war es gewesen ... noch sehe ich das dunkle Schwarz des jäh aussteigenden Berges vor mir, sehe die feurig-rote Schlange der Fackeln sich hineinfressen in das Dunkel und höre den feierlichen Treuschwur, der aus vielen hundert jungen Kehlen begeistert dem alten Waffenschmied des Deutschen Reiches erklang ... und von seinem Turme lohte wie als Antwort trutzig und hoch das Feuer weit in die Lande... das war damals in stolzen, herrlichen Tagen!... Zusammen waren wir dann den Heimweg gegangen hinunter zur Stadt, das liebe, blonde Mädel und ich. Das sonst so übermütige, lustige Ding war heute seltsam still, auch sein Herz hielt wohl die Hoheit der eben durchlebten Stunde gefangen. So gingen wir schweigend... laut hallte unser Schritt... wir waren die ersten der Heimkehrenden ... Hier am Brunnen trennte sich unser Weg ... zögernd, noch benommen von der Schönheit des Abends, lösten sich ein paar Worte von unfern Lippen und fielen wie Tropfen in die stille Nacht. Sie hatte ihre Hand in das Wasser getaucht, als wollte sie das schimmernde Silber von dem Spiegel schöpfen ... ich beobachtete ihre schmalen, weißen Finger, die im Wasser noch zarter und feiner erschienen ... da hatten sich unter dem Wasser unsere Hände zärtlich und scheu gefunden ... Der Mönch schlug langsam und schwer Mitternacht, der Rathausturm folgte... wir schwiegen, und unsere Herzen klopften bang, als müßten die nächsten Sekunden etwas Unerhörtes und Gewaltiges bringen... Ich nahm ihre Hand aus dem Wasser und küßte sie, die so kühl und feuchk war wie eine kleine Nixenhand, dennoch drang etwas heiß und verlangend in mein Blut... da legte sich ihr anderer Arm um meine Schulter, und heiß brannten ihre Lippen auf meinem Mund ... Noch einmal leuchtete fahl und schemenhaft ihr weißes Kleid im Dunkel des Torweges auf, dann war alles wie ein Spuk vorbei. Wo sie jetzt wohl ? Da fällt mein Blick auf den guten, alten Neptun, der den Brunnen bewacht, und den unser Gymnasiasten-Witz sehr unehrerbietig „Zinkengottlieb" getauft, die Vergangenheit versinkt und mit ihr der Zauber der Stunde, tolle Primaner- Streiche fallen mir ein, und, eine übermütige Melodie im Sinn, gehe ich weiter durch den dunklen Torweg und die verschlafenen Laubengänge des Marktes, die alte, stolze Rathaustreppe nickt mir zu, und dann bin ich unten an der Neiße, die schäumend, von zwei großen Mühlen flankiert, sich das Wehr hinunterstürzt .... ängstlich aneinander gedrückt liegen im ersten fahlen Schein des grauenden Morgens die alten Häuser des anderen Ufers, nach dem die hochgebaute eiserne Brücke gebieterisch ihre starken Arme reckt.