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Nr. 20 Gberlauflher Helmatzeltung 2S7 Petroleumlampe aus der Stadt brachte vom Jahrmarkt und wie sie dieselbe dann am Sonntag abend staunend und ehr fürchtig angezündet halten. Ihn fröstelte auf einmal, obgleich er im Sonnenschein saß. Er wandte sich, das Fenster zu schließen. Als er den Arm hob, zuckte ein schmerzhafter Stich durch seine Brust, und in seinem Kopfe brauste und flatterte etwas genau so, als sei ein Falter oder ein anderes Flügeltier in seinem Ohre eingesperrt und zappele da ungebärdig.' Der alte Kunath-Karl fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und dachte: „Was is'n das nu wieder? Ich berste doch gar nich so lange hier sitzen. Jetzt muß ich aber mal runtergehn, mal sehn, wie se mit'm Backen ze Fache Kumm. Klee miß wer ooch noch huln." Aber kaum hatte er ausgedacht, so war ihm alles schon wieder entschwunden, und sein Haupt senkte sich schwer auf die Brust. Während seine Blicke langsam und müde die roten Streifen des Bettbezuges entlang krochen, hörte er wie aus weiter Ferne Hü und Hott rufen und den Pflug über Ackersteine Hinwegknirschen und dachte: „Ach, das bin ja ich. Ich mecht mich derzuhalten mit'm Ackern, 's is 'n hibsches Sticke noch. Was is der Boden bloß naß heite! Und die vielen schwarzen Becgel, wo Kumm die ok hergewimmelt!" Da flimmerte es ihm vor den Augen, und die roten Muster auf dem Bett bezüge liefen zusammen und wieder auseinander wie frisches Blut. Gleich darauf verblaßte alles zu einem Grau, und aus dem Grau trat, selber in schmutzige feldgraue Uniform ge kleidet, sein Sohn Johann und sagte genau wie damals Anno 16: „Also da wär ich nu wieder. Drei Finger Ham se mir rveggeschofsen, die Ludersch, aber sunst bin ich noch ganz. Gebt mer ok glei was ze arbeiten!" Ja, der Johann, das war sein einziges Kind geblieben, ein guter Kerl und ein tüchtiger Landwirt, Gott sei Dank. Eigentlich nur einen Schmerz hatte er den Eltern zugefügt, damals nämlich, als er starr und zäh darauf bestand, eine deutsche Frau zu nehmen, während doch sonst die ganze Sippe rein wendisch war und ihren Stolz darein setzte, es zu bleiben. Daß die Deutsche ein tüchtiges und arbeitsames Weib war, das hatte wohl die Alten nach und nach mit ihr ganz aus gesöhnt, und doch war cs ihnen noch oft schmerzlich erschienen, wenn nun auch die beiden Enkelkinder ihnen deutsche Worte cntgegcnplapperten. Man war gezwungen, viel mehr deutsch zu reden als früher. Aber wie war es denn anderswo im Dorfe? Da war der Nachbar, der Häusler und Arbeiter: wenn da Vater oder Mutter eines der Kinder auf wendisch etwas fragten, bekamen sie stets auf deutsch die Antwort und konnten dem weder mit Mahnungen noch mit Drohungen ab- helfen. Da gab es eine andere Familie, alle rein wendisch, und doch sprachen sie seit Jahr und Tag deutsch miteinander. Ging man am Sonntag durchs Dorf, so hörte man von den spielenden Kindern kein wendisches Wort mehr; vor zehn Jahren noch wäre so etwas ganz undenkbar gewesen. Und als der alte Kunath nun dem entgegenhielt, wie er in seiner Jugend erst in der Schule ein kümmerliches Deutsch gelernt hatte, da schüttelte er trübe den Kopf. Doch nicht allzu lange beschäftigten ihn solche Erwägungen, die Kraft seines Geistes langte nicht mehr aus, Gedanken über ein paar Augenblicke hinaus festzuhalten. Er starrte in die Sonne, die am Westhimmel in einen zarten Wolkenschleier eingetaucht war. Dann erhob er sich endlich, sehr schwerfällig und sehr mühsam, kramte aus dem Kommodenfach sein großes wendisches Gesangbuch hervor und begann darin zu lesen. Aber schon nach einigen Zeilen ließ er das Buch wieder sinken und schob cs aufs Fensterbrett; die Buchstaben tanzten vor seine» Augen, wurden bald groß, bald klein, vollführten wunder liche Verrenkungen, wollten sich nicht zu Worten zusammensügen. Ob denn niemand zu ihm heraufkommen, nach ihm sehen würde? Ach, es hatten ja alle heute so notwendig zu tun, daß wohl keines für den alten, grilligen Großvater Zeit übrig fand. Und die Kinder, sonst so anhängliche, spaßige Besucher? Nun, die umstanden jetzt wahrscheinlich den Backofen, voll süßer Erwartungen, mit kuchlüsternen Augen und Mäulchen. Ohne recht zu wissen, was er tat, begann sich der alte Bauer Kunath auszuziehen. Es war ihm aber auch wieder so warm geworden, so warm, wie einem eigentlich nur im Winter in der „Hölle" hinter dem gut geheizten Kachelofen sein kann. Eine Röte kroch ihm langsam in die runzligen Wangen und über die faltenreiche Stirn. Die Augen brannten, als wären sie in heißes Sl gebettet. Was war das für eine schwüle, wirre Luft in der Kammer; man mußte wohl ein Fenster wieder öffnen! Das tat der alte Bauer und konnte nicht begreifen, wie die Fensterwirbel heute gar so schwer zu drehen waren, daß seine zittrige Hand einige Mal wieder von ihnen abglitten. Der Alte legte sich ins Bett und atmete schwer. Er machte sich keine Gedanken mehr, sich so am hellerlichten Arbeitstage müßig niedcrzustrecken. Es rührte ihn nichts, als draußen ein schwerer Wagen in den Hof einfuhr und geschäftige Rufe sich erhoben. Er schloß die Augen und zog mit einer müden, mut losen Bewegung das Deckbett ganz an das hagere, unrasierte Kinn heraus. Eine Weile noch schien die Sonne herein, ein Schimmer fiel über das Kopfkissen des Alten; dann versteckte sie sich hinter den noch dichten Wipfeln der Bäume im Obst garten. Da hockte in den Winkeln der niedrigen Kammer braune Finsternis. Ein kühler Herbstwind strich herein, die kurzen geblumten Vorhänge am Fenster blähten sich ruckweise in die Stube. Der Alte lag da mit geschlossenen Augen, regungslos, nur die Lippen bewegte er zuweilen; doch man konnte weder hören noch ersehen, was er sprach. Als nach einiger Zeit im Garten drunten eine Sense laut und schars gedengelt ward, fuhr der alte Dauer kaum merklich zusammen, wandle ganz, ganz langsam und mit Anstrengung seinen Kopf dem Fenster zu und blinzelte mit halboffenen Augen. Es war, als glitte durch das Fenster ein grauer, dumpfer Schatien und legte sich unhörbar auf das Bett des alten Bauers. Karl Kunath tat ein kurzes, wehes Stöhnen; dann blieb er ganz still liegen. — * * * Als der letzte Schein des Tages in die Kammer des alten Bauern eingekehrt war, wurde draußen vor der Tür eiliges Getrippel von Kindersüßchen hörbar. Mit Mühe und nach einigen vergeblichen Versuchen ward die Klinke niedergedrückt, und herein stolperten zwei Kinder. Die kleine Fünfjährige mit den geweckten braunen Äuglein zog das strampelnde Brüderchen, das noch in einem dicken wollenen Röcklein einher gehen mußte, energisch hinter sich her; mit der anderen Hand hielt sie ein schönes Stück frischen, weichen Quarkkuchens umfaßt. „Großpapa"! rief die kleine Martha. „Opapa!" krähte das andere nach. Aber es erfolgte keine Antwort. Da tastete sich das Mädchen nach dem Schalter hin und knipste Licht an. „Großpapa, o Du »bist schon schlafen gegangen?" sprach es verwundert. „Aber Du mußt nu noch frischen Kirmstkuchen kosten, nich wahr, Hansel, Großpapa muß?" „Opapa muß Tirmstuchen tossen!" sagte Hansel und nickte ernsthaft. Das Schwesterchen machte „Pst!", ging an das Bett des Alten, hob sich auf die Zehen und legte ihm das Stück Kuchen ganz nahe an den Mund. Dann rief es ihm ins Ohr: „Groß papa aufstehn!" Der aber rührte sich nicht, lag do, als sei er von einem überaus tiefen Schlaf befangen. Sie rief ihn lauter und ängstlicher, während der kleine Hansel sie am Kleide zerrte und weinerlich winselte. Sie nahm das Brüderchen auf die Arme, und es fuhr mit seinen feuchten Patschhändchen dem Großvater ins Gesicht, fingerte ihm ein bißchen auf der Nase umher, wie es so oft im fröhlichen Spielen getan. Sonst hatte der Großvater dann fürchterlich geschnarcht und gegrunzt und gefaucht und so spaßig nach den winzigen Fingern geschnappt; heute aber behielt er die Augen fest zu und bewegte sich nicht. Da nützte kein Rufen und Perühren etwas; es war durchaus nichts mit ihm anzufangcn.