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gewordene „pythagoreische Freundschaft" herrschte. Was Wunder also, wenn eine Zeit wie die der „Empfindsamkeit" aus der ihr mit Macht als unwiderlegbare Wahrheit gepre digten These von der Güte der menschlichen Natur die Kon sequenz zu ziehen und auch als guter Mensch zu leben sich bemühte? Was Wunder auch, wenn in der von Holun der und Rosengerank umwachsenen Pythagoras-Hütte da droben zu Häupten der Marienmühle die Bilder der theo retischen Vollender der pythagoreischen Freundschaft: Plato, Sokrates und Seneca, aufgehängt waren ... Freilich, wenn man unmittelbar von der Hütte zu dem von den prächtigsten Buchen des Tales beschatteten „Berg quell" (24) kommt und daselbst auf der Steinplatte über dem quadratischen Fangbecken den rätselvollen Zuruf der Quell nymphe zu lesen versucht, so steigen doch lebhafte Zweifel auf, ob man soeben auch das Rechte getroffen. „Schöpfe schweigend! — Warum? — Nun so schöpfe nicht! — Und warum nicht? — Nur dem stillen Genuß ström' ich er quickenden Trank." 8. EmpfindsameNeugier Einige Monumente im Tal zeigen uns einen anderen typischen Wesenszug der empfindsamen Zeit: die Neugier. Das klingt vorderhand recht paradox, ist's aber nur schein bar, wie sogleich nachzuweisen sein wird. Die „empfindsamen" Menschen gaben sich den wenigen Reizen, die aus Bildung, Wirtschafts-und Gesellschastsleben flössen, willenlos hin, ließen sich von den Dingen tragen, wollten erleben, ergründen, genießen. Da man gewissermaßen aus dem Erstaunen über die empirisch dabei gemachten Er fahrungen nicht herauskam, suchte man, wie schon ander wärts berührt wurde, den Ursprung zu erforschen und be gann zu dem Zwecke sich selbst zu beobachten. Man drang allmählich in eine bis dahin unerhörte Tiefe der menschlichen Seele und machte dabei die Entdeckung, daß die Seelen gründe der Menschen viel, viel reicher seien, als man sie sich dachte. Die neuentdeckte Überfülle des Innenlebens drängte spontan nach Auflösung ins Unendliche; denn das ungeheure Erlebnis so gewaltiger, schier unfaßbarer Dinge drohte das eigene kleine Ich zu zersprengen. Nicht mit einem Schlage ist die volle Eröffnung der Seele bis zum Höhepunkt vorgeschritten, sondern sie be-. wahrte gewisse Vorstufen. Zunächst herrschten nicht die ein fachen, sondern die Mischgefühle vor: das Bittersüße, das Traurig-Lustige, das Wehmütige und Rührende. Das ist die Empfindsamkeit, bei der Tränen die beständigen Begleite rinnen der gesteigerten Gefühle sind! Wie Wieland beim Lesen von Klopstocks „Messias" Tränen des Entzückens weinte, so erregte die empfindsame Dichtkunst der Engländer Samuel Richardson, Lawrence Sterne und Edward Poung, sowie des Franzosen Marmoniel immer und immer wieder die Gemüter — auch die im Seifersdorfer Schlosse, wie die nun zu betrachtenden Denkmäler zeigen sollen. Nicht weit unterhalb der Grundmllhle, talabwärts, stößt man unmittelbar am Wege auf einen aufqerichteten recht eckigen Syenitblock, die letzte Spur von „Lorenzos Grab". Dasselbe befand sich einst in einem von Weidenzaun ein gehegten Garten, der zwei Lauben barg und über der Tür die alles besagende Inschrift führte: „Ewig ist das Fort schreiten zur Vollkommenheit, wenngleich am Grabe die Spur unserm Auge entschwindet" (7). Und droben am Berghang stand unter Eichen „Lorenzos Hütte" (9) auf einem abgerun deten Platze, der heute das einzige Zeugnis vom ehemaligen Vorhandensein einer halb aus rohem Stein gebauten, halb mit Holz verschalten Hütte ist. Lorenzo war eine der Figuren aus Sternes Roman „Poricksempfindsame^ReisedurchFrankreich und Italien", eines Produktes der von England aus gehenden sentimentalen, moralisierenden Literaturgattung, das nach dem Import in Deutschland eines der am meisten gelesenen Bücher ward. Denn Lorenzo war — wie Becker erklärend bemerkt — „nicht nur unter guten Menschen eine Losung zur Sanftmut und Menschenliebe geworden, sondern hatte der gutmütigen Schwärmerei durch seine Dose auch Stoff zu Orden und Nachahmungen gegeben." Mit der genannten Dose hat es folgendes Bewenden: Lorenzo geht Porick, einen Edelmann, einmal um einen Bei trag für sein Kloster an, wird aber abgewiesen. Nicht lange danach treffen die beiden zufällig aus der Straße zusammen und Lorenzo zaudert nicht, dem anderen trotz dessen früherer Schroffheit seine schlichte, hornene Schnupftabaksdose zur Prise hinzuhalten. Porick ist so gerührt über dies Zeichen sanftester Demut, daß er dem Mönch die Dose nimmt und ihm dafür die eigene, kostbar goldbeschlagene Schildpatt dose einhändigt. Nach der Rückkehr von der Reise erfährt Porick vom Tode des guten Lorenzo und eilt an dessen Grab, um daselbst die hornene Dose aus der Tasche zu langen, eine Prise aus ihr zu tun und dann dem Mönch in die Ewigkeit „gerechte Tränen der Wehmut" nachzuweinen ... Heute lächeln wir über solch grotesk-süßliche Weichheit, aber vor 150 Jahren konnte man darüber Tränen höchsten Entzückens weinen! Auch in Seifersdorf! Es war eine Liebltngsidee der Gräfin, dem guten Mönch eine Hütte zu errichten. Ihr Gemahl erfüllte ihr denn auch bald den Wunsch und steigerte den Grundgedanken noch, indem er annahm, Lorenzo habe sich die heilige Christine — sprich: die Gräfin Brühl — zur Schutzpatronin erwählt, und darum ihr Bild nis in entsprechendem Kostüm in der Hütte anbringen ließ. Tina wird vermutlich oftmals hier oben geweilt haben, denn sie schwärmt einmal an Wieland mit Bezug auf Lorenzos Hütte: „Meine Einsamkeit hier ist so charmant, geeignet zu Träumereien, ganz gemacht, um selbst den rauhesten Men schen in ein empfindsames Wesen zu verwandeln." Nicht minder beträchtlichen Einfluß auf die Ausgestaltung des Tales übten die „Moralischen Erzählungen" des Fran zosen Marmontel aus. Auch dieser Poet kann nicht genug tun, edle Menschlichkeit mit allen Farben und mit allem Aufwand von Empfindsamkeit auszumalen, obwohl er selbst ganz in den Anschauungen der Rokokozeit besangen ist. Er ist ein Beweis dafür, daß gerade leichtgeschürzte und frivole Zeiten immer am meisten und schwungvollsten von der Tugend zu reden wissen! In Seifersdorf nun scheint man besonderes Entzücken empfunden zu haben über Marmontels rührsame Erzählung von der „Hirtin der Alpen", vermutlich, weil darin edle Menschlichkeit und Idyllenluft eine Atmosphäre erzeugen, die man am ehesten im heimischen Talgrund mit all ihrem berauschenden Aroma auf sich wirken lassen konnte. Adelaide, die Hirtin der Alpen, war eine französische Adlige, die den Grafen d'Orestan, einen Heerführer, liebte. Der Schöpfer des Wortes „empfindsam" Ist kein anderer als Lessing, der es 1768 als Übersetzung des englischen 8sntimsntsl fiir Bode, den Übersetzer des Sterneschen Romans, oorschlug. Bereits 1775 ist der Ausdruck „empfindsam" in I. F. Heynatz' „Handbuch zu richtiger Verfertigung und Beurteilung aller Arten von schrtst- lichen Arbeiten usw." angeführt als „ein neues Wort, welches in kurzer Zeit sehr bekannt geworden ist". — Wie bezeichnend für die Geistesrichtung der damaligen Zett!